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„Es sind die kleinen Schritte, die verändern“

Zwischen Mobilisierung und Resignation, Bürgerbeteiligung, Verkehrsberuhigung und Sanierung billigen Wohnraums: Wilhelmsburg, Hamburgs internationalster Stadtteil, sucht nach einer neuen Identität.  ■ Von Heike Haarhoff

Die Kunde von der neuen Müllverbrennungsanlage verbreitete sich wie ein Lauffeuer. 50.000 Wilhelmsburgerinnen und Wilhelmsburger hatten nur einen Gedanken: Nein. Sie stellten sich „quer“, wie man heute sagen würde. „Die größte Bürgerinitiative der Bundesrepublik habe ich damals angeführt.“Günther Glatz schwelgt in Erinnerungen an eine Zeit, die inzwischen gut ein Jahrzehnt zurückliegt, „als es hier noch Schwung gab und nicht bloß diese Orientierungslosigkeit“.

Denn die Richtung, für die man gemeinsam kämpfen wollte, war offensichtlich: Sturmflut 1962, Skandaldeponie Georgswerder, Gift auf Spülfeldern, die leidige Verkehrsdiskussion um die Hafenquerspange – eine weitere Katastrophe namens Müllverbren-nungsanlage, und der Stadtteil Wilhelmsburg steht in Flammen, das wußten alle. Da spielten soziale, ökonomische, nationale und kulturelle Differenzen keine Rolle.

Doch als der Feind weg war – der Senat verlegte den Müllofen nach Altenwerder – tauchten die alten Probleme wieder auf. Vielleicht hatte man auch nur mehr Zeit, sich wieder auf sie zu besinnen. Günther Glatz ist sich nicht ganz sicher. Nur darüber: „Die Mobilisierung ist 1997 schwieriger geworden.“

Denn das, wogegen er heute gern zusammen mit anderen kämpfen würde, ist so viel komplexer als eine Müllverbrennungsanlage: Die Arbeitslosigkeit erreicht auf der Elbinsel bis zu 40 Prozent, genauso hoch ist die Zahl der Nichtwähler. Hinzu kommt die schlechte Wohnsituation, das Sterben der Werften und des Industriestandorts, das subjektive Empfinden steigender Kriminalität und eine Bevölkerung, die sich zu 60 Prozent aus Menschen deutscher Staatsangehörigkeit und zu 40 Prozent aus Menschen zusammensetzt, die 30 unterschiedlichen Nationalitäten angehören. Vielleicht der internationalste Ort dieser Stadt.

Günther Glatz will das nicht als Chance begreifen. „Die Diagnose haben wir, jetzt braucht Wilhelmsburg eine Therapie“, sagt der knapp 60jährige Arzt. Und dazu, findet auch Rainer Kleffelmann, einer von 50 Ladeninhabern vom „Zusammenschluß Wilhelmsburger Einzelhändler“, bedarf es einer „ausgewogenen Bevölkerungsstruktur“. Solange 75 Prozent des gesamten Wohnungsbestands auf der Elbinsel Sozialwohnungen seien, könne das nicht klappen, protestiert er „gegen die Hamburger Belegungspolitik“.

Denn: „Sobald die Leute besser verdienen und Fehlbelegungsabgaben zahlen sollen, ziehen sie lieber weg“, weiß Kleffelmann. Den Geschäftsleuten entstünden so massive wirtschaftliche Einbußen. Dem ehemaligen Industriestandort hänge immer noch sein Schmuddel-Image an, fürchtet auch Wilhelmsburgs Deichvogt Peter Schlatermund. Rund zwanzig Bewohner der Elbinsel, darunter ein Polizist sowie Vertreter des örtlichen Gewerbes, nicken. Sie alle versammelten sich vorgestern bei Günther Glatz und seinem Verkehrs- und Interessen-Verein Hamburg-Wilhelmsburg von 1928, um ihrem Unmut Luft zu machen.

„Adreßfähig“für Wirtschaftsunternehmen müsse Wilhelmsburg wieder werden. Wie das gehen soll, ist niemandem so recht klar. Da helfen nur noch pauschale Urteile: Denn wie soll man etwas verändern, wenn „jegliche Wertmaßstäbe fehlen“und „unsere Bürger über Printmedien nicht mehr erreichbar sind, sondern nur über TV“? Im allwöchentlichen Forum Wilhelmsburg, diesem weit über Hamburgs Grenzen hinaus als vorbildlich gehandelten Modell der Bürgerbeteiligung zu Stadtteilentwicklung und -management, treffen sich heute regelmäßig nicht mehr als 15 bis 20 Menschen. „Die anderen“, beklagt das aktive Forums-Mitglied Glatz die allgemeine Resignation, „kommen nur, wenn's Freibier gibt oder wenn sie Zuschüsse brauchen“.

„Das Forum ist nicht gescheitert.“Ortsamtsleiterin Heike Severin (SPD) wehrt sich entschieden gegen diesen Vorwurf. Anfang der 90er Jahre, als sich die Einwohner des Orts mit den 132 Brücken völlig von Rest-Hamburg abgeschnitten fühlten, weil dieses Hamburg auf der anderen Seite der Elbe sie nicht wahrzunehmen schien, wurde das Bürgerforum auf ihren Druck hin eingeführt: Verbände, Initiativen, Politiker, Verwaltung und Einzelpersonen diskutieren seither unter der Moderation von Dittmar Machule, Professor an der TU Harburg, gleichberechtigt Wünsche und Anregungen aus den Bereichen Umwelt, Verkehr, Soziales, Wohnen, Wirtschaft. Das Forum ist feste Einrichtung geworden.

Drei Millionen Mark aus dem Etat der Stadtentwicklungsbehörde sind seitdem für Sofortmaßnahmen geflossen, die Identität und Image aufbessern sollten. Unterstützt wurden der Anbau am Haus der Jugend, ein Museum in einer 120 Jahre alten Windmühle, eine örtliche Arbeitsvermittlung, weil das Arbeitsamt dicht ist, Stadtteilclubs und ein Buch der Geschichtswerkstatt. Andere Behörden haben weiteres Sponsoring zugesagt.

„Meine These ist“, doziert Dittmar Machule, „daß Hamburg mittel- bis langfristig überhaupt nicht daran vorbeikommt, den heutigen siedlungsgeographischen Mittelpunkt dieses Landes, also Wilhelmsburg, aufzuwerten.“

In den Straßen rund um den Vogelhüttendeich nahe des Veringskanals, wo jeder Kiosk gut läuft, der türkischsprachige Zeitungen führt, passiert das gerade. Das Reiherstiegviertel mit seinen schmucken fünfstöckigen Gebäuden und Jugendstilfassaden, die auch in Altona oder dem Schanzenviertel stehen könnten, wird derzeit mit öffentlichen Millionen zu preisgünstigen Wohnungen saniert. Alles in diesem einst klassischen Wilhelmsburger Hafenarbeiterviertel längs der Kanäle und westlich der Autobahn sieht nach Aufbruch aus. Szene-Kneipen wie Rick's Café, verkehrsberuhigte Straßen und Kinderspielplätze liegen hier, im Café Ankara wird geflippert, und nebenan beim Friseur gibt's den Trockenhaarschnitt noch für 15 Mark.

Im städtischen Gewerbehof „Veringhof“bietet der Landesbetrieb Erziehung und Bildung seit Sommer 1995 Lehrwerkstätten für Friseure und kaufmännische Berufe an, unterhält die Arbeitslosen-Ini der Emmaus-Gemeinde eine Kleiderkammer und beschäftigt die Werft Blohm + Voss Werkstoffprüfarbeiter. Eine türkische Bäckerei arbeitet hier, ein Schweißtechnik-Unternehmen, eine Firma für Brandsanierung sowie Ingenieurbüros, Tischlereien und Foto-Ateliers. Na und? fragt Günther Glatz. Integration, städtisch vorbildliche Sanierung und Arbeitsbeschaffung hin oder her, bewege sich „doch bloß rückwärts“.

„Wenn der soziale Druck wächst und die Institutionen keine rosigen Zukunftsperspektiven anbieten, besinnt man sich wieder mehr auf das Religiöse und wertet alte Traditionen auf“, hält Erhan Gür, türkischer Lehrer und Sozialbetreuer an der Gesamtschule Wilhelmsburg, dagegen. Seine Hoffnung für Wilhelmsburg: „Sind die Zeiten besser, öffnet man sich auch wieder, und die Verhältnisse unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen normalisieren sich.“

„Es hieß schon immer, der Stadtteil sei schwierig.“Volker Weyland blickt auf 25 Jahre Lehrtätigkeit an der Ganztagsschule in der Rotenhäuser Straße zurück. Selbst wenn die Lernerfolge bei Schülern aus 26 Nationen und mehrsprachigem Unterricht „vielleicht nicht wie in anderen Stadtteilen sind“: Es gibt Dinge, die wichtiger sind. Die Schulkantine, wo SchülerInnen für SchülerInnen kochen, „was dann auch schmeckt“, der Rock-Keller, die schulischen Sport- und Freizeitangebote, die viele Jugendliche „von der Straße“holen: „Es sind die kleinen Schritte, die verändern.“

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