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Schulreform heißt Staatsreform

„Interschul 97“: Die PädagogInnen kapitulieren vor der Heterogenität der Schulen. Klima an Schulen ist wichtiger als die Einhaltung des Schulrechts  ■ Von Thomas Loy

Was ist Schule? Wie sollte ein Lehrer „beschaffen“ sein? Welche SchülerInnen braucht die Schule? Solche Globalfragen – sie betreffen immerhin etwa zehn Millionen Heranwachsende in Deutschland – nötigen Pädagogen oft zu leeren Statements. „Wir haben keinen Konsens über Schule. Überall findet sie statt“, resümierte der Hamburger Erziehungswissenschaftler Peter Struck auf der „Interschul 97“, die gestern zu Ende ging. Wenn interessierte Frontpädagogen von dieser Bildungsmesse etwas mitnehmen konnten außer Bergen von Papier, dann war es die Verabschiedung von Wissenschaft und Schulverwaltung aus der Schulpraxis – eine selbstironische und humorvolle Kapitulation vor der Heterogenität von Schulen, LehrerInnen und SchülerInnen.

„Schule in erweiterter Verantwortung“, so wird der Rückzug von Experten, Strategen und Taktikern aus dem Schulalltag in Berlin benannt. Mit Standardprogrammen von oben kann man den Problemen an den tausend Hauptstadtschulen nicht mehr Herr werden, also entläßt man sie in die Eigenverantwortung. „Die Verwaltungen haben erkannt, daß sie Schule nicht steuern können“, sagte Tom Stryk, Berater von Schulsenatorin Ingrid Stahmer (SPD). Es sei immerhin schon viel erreicht, wenn sie die Schulreform nicht behinderten. Abschaffen könne man die Bürokratie allerdings nicht. „Schule ist ein Teil der Verfassung. Schulaufsicht daher ein Teil des Verfassungsschutzes“, sagte Stryk und merkte, daß er in eine rhetorische Falle getappt war. Er bat seine Zuhörer, diese „Metapher“ nicht überzustrapazieren.

Schulautonomie kann man natürlich auch positiv wenden. Der Staatsrechtler Frank-Rüdiger Jach vom Institut für Bildungsforschung und Bildungsrecht in Hannover sieht die starke Verrechtlichung von Schule in Deutschland als ein Erbe preußisch-absolutistischer Tradition. Das mache eine Reform so schwierig. „Die Entwicklung in Deutschland ist alles andere als avantgardistisch. Fast alle Nachbarländer, auch in Osteuropa, sind bei der Autonomie von Schulen schon viel weiter.“ Sogar in den Schulämtern sei es mittlerweile common sense, daß Ethos und Betriebsklima einer Schule wichtiger seien als die genaue Einhaltung des Schulrechts. Eine flächendeckende Entlassung der Schulen aus der staatlichen Knebelung scheint allerdings ein zu großer Brocken zu sein. „Wenn man es ernst meint, reden wir von einer Staatsreform – eine Wiederaneignung der Schule durch die Gesellschaft“, so Tom Stryk. Ein Land freier Schulen – Montessori, Waldorf, Jenaplan – mit unterschiedlichen individuellen Lehrmethoden oder gar Lernzielen? Stryk: „Freie Schulen sind für den Staat oft noch ein rotes Tuch. Es besteht eine Angst vor der Konkurrenz – ohne inhaltliche Reflexion.“ Da zerteilt man den Brocken staatliches Schulsystem lieber in viele kleine Modellversuche und guckt nachher, was herausgekommen ist. „Aber es fehlen die Kriterien zum Vergleich der Wirksamkeit von Konzepten. Was ist eine gute Schule?“ fragte Stryk ratlos ins Plenum. So laufen die meisten Modellversuche irgendwann aus und hinterlassen nichts als frustrierte Lehrer und einen Haufen Papier – eine Übertragung auf andere Schulen scheitert oft schon an den Kosten. Aus diesem Dilemma gehen die Träger freier Schulen gestärkt hervor, denn sie erheben gar nicht den Anspruch, übertragbare Modelle zu entwickeln, sondern verstehen sich eher als Anbieter pädagogischer Konzepte. Auch Stryk und Jach votierten für eine weitgehende Gleichstellung freier Schulen mit den staatlichen. Jach nannte das Vorbild Niederlande mit einem 70prozentigen Anteil freier Schulen. „Alle totalitären Staaten haben ein staatliches Schulmonopol. In der Schulfrage zeigt sich, wie frei und demokratisch eine Gesellschaft ist.“

Lehrer werden zukünftig zu Lernberatern

Mehr Selbständigkeit für die Schulen bedeutet mehr Verantwortung für die Lehrer. Peter Struck verwies auf die Wissensgesellschaft, die über uns hereinbrechen soll. Der Lehrer werde dann nur noch ein „Coach“ sein, ein „Lernberater“, ein Troubleshooter, wenn Kind und Computer nicht mehr weiterwissen. Das eigentliche Fachwissen könnten die multimedialen Maschinen viel besser unter die Jugendlichen bringen. Struck: „Die Hirnforscher sagen, Kinder lernen am Lerncomputer besser und effektiver. Wer im multimedialen Kinderzimmer aufwächst, hat schon ganz andere Hirnverknüpfungen.“ Deshalb müßten sich Lehrer viel mehr auf ihre psychosozialen Aufgaben besinnen.

Das allerdings ist für bayerische Zeitgenossen wie Ludwig Eckinger, Vorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung, und Walter Trapp, Chef des deutschen Realschullehrerverbandes und selbst Schulleiter, ein ausgemachter Schmarren. „Der Lehrerberuf ist bedroht, wenn Pädagogen zugleich Animateur, Therapeut, Organisator und Elternersatz sein sollen. Das ist die totale Überforderung“, schimpfte Eckinger. „In den Medien wird der Lehrer als gesellschaftlicher Sündenbock vorgeführt. Dagegen wehren wir uns.“ Und Walter Trapp, ein Mann vom Schlage des strengen, aber gutmütigen deutschen Paukers, kennt einfach keine verhaltensgestörten, Drogen konsumierenden oder randalierenden Kinder. „Es gibt viele Grundschüler, die ihren Lehrer noch hoch verehren.“

Der Lehrer müsse in erster Linie seinen Stoff beherrschen. „Der Lehrer als Therapeut – das ist Unfug. Sie können ihnen in der Ausbildung meinetwegen ein paar Stunden Psychologie verpassen, aber erhoffen Sie sich davon nicht zuviel.“ Das Auditorium empfand das bayerische Lehrerfossil teils wie eine Satirenummer. Als die Diskussion eröffnet wurde, blieben die Zuhörer jedoch stumm. „Wenn Sie keine Fragen haben, rufen wir auf“, feixte Trapp.

Eltern müssen für Schulbücher zahlen

Eins erscheint sicher. Wenn Eltern zunehmend zwischen Schultypen wählen können, werden sie auch mehr dafür bezahlen müssen. Stichwort: Lernmittelfreiheit. Hans-Jürgen Pokall, Landesschulrat in der Senatsverwaltung, verkündet stolz, daß der Etat für Lernmittel in Berlin von 53 auf 63 Millionen Mark aufgestockt worden sei und durch keine Haushaltssperre mehr gekippt werden könne. Doch die Praktiker machten wieder alles mies. In den Bezirken würde viel Geld hängenbleiben, und die Schulen finanzierten aus dem Rest die Kopierermieten, Materialien für den Unterricht und die Klassenausstattung. Schulbücher seien oft zehn bis zwölf Jahre alt (vorgesehen sind vier) und könnten kaum noch benutzt werden. Die Schulbuchverleger würden sich lieber heute als morgen von der Lernmittelfreiheit verabschieden und ein Bonussystem wie in Rheinland-Pfalz oder im Saarland übernehmen. Dort werden alle Schulbücher von den Eltern gekauft. Familien mit geringem Einkommen erhalten Bonusscheine. „Das Bonussystem ist sozial und praktikabel. In Berlin könnten damit 20 Millionen Mark eingespart werden“, hieß es. Viel Speck für die Sparmäuse im Senat.

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