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Ganz nüchtern vor dem großen Sieg

■ Ab morgen wird Frankreich eine linke Mehrheit haben – dennoch bleibt Jospin kühl

Lille (taz) – Vor knapp einer Woche wollten sie bloß die „Zukunft ändern“. So stand es auf den sozialistischen Transparenten und den grün auf weiß bedruckten T-Shirts, die die Parteijugend beim zentralen Pariser Meeting mit dem Spitzenkandidaten Lionel Jospin trugen. Jetzt ist der neue Zusatz da: „Die Mehrheit ändern.“

Statt „wir können gewinnen“, sagen die Sozialisten bei diesem letzten großen Wahlkampfakt: „wir werden gewinnen“. Laut und rhythmisch skandieren sie den Siegesruf in Lille. 8.000 Menschen sind an diesem Donnerstag abend in die Konzerthalle an einer Autobahnkreuzung in der nordfranzösischen Arbeiterstadt gekommen. In der von stillgelegten Minen und polnischer Immigration geprägten Grenzregion zu Belgien sind beim ersten Wahlgang am vergangenen Donnerstag die Sozialisten stärkste Partei geworden. Vier Tage später ist nun Parteichef Jospin zu ihnen gekommen. Er bringt den Lillois ein Dankeschön, einen Abschluß des Wahlkampfes und die Beschwörung, bloß nicht die Hände in den Schoß zu legen, da der Sieg noch keineswegs feststehe.

Vier Stunden lang haben die Menschen auf den strengen Jospin gewartet. Das Meeting war als gemeinsame Veranstaltung der linken Allianz angekündigt. Aber die kommunistische Basis ist nicht gekommen. Auch Grüne sind in dem sozialistischen Publikum mit der Lupe Seltenheit.

Der Präsident der Sozialistischen Internationale und Bürgermeister von Lille, Mauroy, die neue Aufsteigerin und örtliche Kandidatin der Sozialisten, Aubry, der kommunistische Parlamentsabgeordnete Boquet und der grüne Kandidat Hacoät haben ihnen die Zeit mit Reden vertrieben. Dann kommen Musiker aus Dünkirchen in gelben Ostfriesennerzen auf die Bühne und pfeifen einen Karnevalsmarsch. In der Mitte der Halle öffnet sich ein Gang. Um 22 Uhr 30 zwängt sich Jospin, der kurz zuvor noch ein Fernsehinterview in Paris gegeben hat, durch die Menge. Unter dem dichten weißen Haarschopf trägt er das übliche sorgenvolle Gesicht.

Jospin ist kein Verführer, wie seine sozialistischen Vorgänger und seine Konkurrenten auf der rechten Seite des Spektrums. Seine politischen Gegner streift er nur kurz. Statt dessen lobt er die neue Zusammenarbeit von Kommunisten, Grünen und Sozialisten. Spricht über ein neues Erziehungsprogramm, über sozialen Wohnungsbau, über Arbeitsplatzbeschaffung und über die Konservativen, die die Austerität predigen und selbst Geld verschleudern. Über das Thema Immigration sagt Jospin in Lille kein Wort. Europa handelt er kurz ab.

Zweieinhalb Tage vor dem zweiten Urnengang herrschen bei Jospin und bei der sozialistischen Basis die nachdenklichen Töne vor. Auch wenn die Meinungsumfragen in dieser letzten Woche in Frankreich verboten sind, wissen in Lille alle, daß die Linken vermutlich die Mehrheit im neuen Parlament haben werden. Siegesgefühl kommt aber nicht auf. „Wir müssen wahrhaftig sein“, sagt einer aus der Grubengegend von Lens, wo die Front National zweitstärkste Partei geworden ist.

Für den Kommunisten Boquet, ein „Harter“, der die Allianz mit den Sozialisten argwöhnisch verfolgt, wird der linke Erfolg nur kurz währen. „In einem halben Jahr sind die Leute alle auf der Straße und skandieren: Nieder mit Jospin“, warnt er in kleinem Kreis nach dem Meeting, auf dem er eine kämpferische Rede gehalten hat, ohne seine Gegnerschaft zu Euro groß zu erwähnen. Der Grüne Hacoät, einer jener Ökopolitiker, die von Sozialisten und Kommunisten unterstützt werden, ist optimistischer. „Im nächsten Jahr haben wir es vielleicht auch in Bonn mit Rot- Grün zu tun.“ Das hofft auch Bürgermeister Mauroy. „So wie uns der britische Labour-Sieg geholfen hat, wird unser Sieg auch den deutschen Sozialdemokraten nützlich sein“, glaubt er. Dorothea Hahn

Kommentar Seite 10

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