Seifenopern auf Dachterrassen

Im Hochsommer wollen die Triebe einfach keine Ruhe geben: An den Zeitungskiosken dominieren die saftig-körpernahen Themen, und die Nachbarn üben sich bei geöffneten Fenstern in multimedialen und analogen Sexaktivitäten. Ein Sommerreport  ■   Von Detlef Kuhlbrodt

„Ich finde, der Whirlpool ist ein einsamer, luxuriöser Ort schnafter Verschwendung“ Diedrich Diederichsen

Sommer in Kreuzberg. Im Zimmer am Fenster vermischen sich Innen und Außen in der Hitze – nicht ganz, denn man muß ja im Zimmer sitzen und arbeiten, aber doch so, daß man häufig am Fenster, an der Schwelle zwischen Innen und Außen, steht und hinausschaut, weil man erst mal drinbleiben muß, wegen Arbeiten.

Es ist heiß. Jeden Morgen poltern aggressive Müllmänner durchs Zimmer wegen Mülltrennung. Melanie, die junge Raverin, sitzt in hellen Shorts auf ihrer Dachterrasse und sonnt sich und winkt, wenn man rüberguckt. Eigentlich ist sie gar keine Raverin. Ich nenn' sie nur so. Wahrscheinlich ist sie eher zeitgenössische jeunnesse dorée mit einem Martini in der Hand gegen Mittag und Brüsten, die den sanften Wind dort oben am Nachmittag genießen, und Freunden, die ab und an auf der Dachterrasse tanzen, weil's Sommer grad ist auch am Abend. Eigentlich sieht das alles so aus, wie eine Soap Opera. In der Zeitung steht was von einer „Busentführung“; Karolin liest statt dessen: „Busenführung“.

Eigentlich ist alles wie immer. Wie letztes Jahr oder vorgestern: Am Zeitungskiosk dominieren die körpernahen Themen. Seit 1989 schreibt immer jemand Artikel über das unterschiedliche Naturverhalten von Ost und West. Jedes Jahr die gleichen Sätze: „Am Strand ist die Nation gespalten – Ostdeutsche wollen sich das Nacktbaden nicht verbieten lassen“, und: FKK war „eine der wenigen Freiheiten, die wir hatten“ (Tagesspiegel). Es ist heiß. Das Telefon klingelt. Eine nette Stimme der Firma Eismann fragt, ob neulich jemand von der Firma Eismann einen Prospekt vorbeigebracht habe und wie man den Eismann-Essen-auf-Rädern-Katalog so finde. Die Kontrollgesellschaft dominiert auch in der Welt der Prospekteausteiler – am Ku'damm etwa werden alle Aschinger-Handzettelverteiler von Aschinger-Handzettelverteilerkontrolleuren mit Handys kontrolliert. „Da trifft es sich gut, daß die Triebe, vor allem solche des Geschlechts, auch im Hochsommer keine Ruhe geben.“ (Hellmuth Karasek)

Die Straße ist eng und kopfsteingepflastert. In der Wohnung gegenüber gibt es weder Vorhänge noch Jalousien. Da wohnt seit kurzem ein junger Mann, Mitte zwanzig. Der junge Mann sieht aus wie die jungen Männer, die in Magazinen so gerne als Werbebild der Love Parade abgedruckt werden. Braungebrannt, sportlich, Glatze, schwarze Hose bis zum Knie. Häufig sieht man ihn im Profil vor dem offenen Fenster, im gemütlichen Licht einer Schreibtischlampe auf einem bequemen, schwarzen Drehstuhl mit Armlehnen zurückgelehnt sitzen. Seine Hose hat er bis zu den Knien heruntergelassen und reibt zärtlich an seinem steifen Schwanz, der aussieht wie ein Schattenbild. Manchmal rüttelt er auch heftig.

Wir saßen am Abend am Fenster bei angenehmer Musik – „the house next door“ von Hans Nieswandt –, rauchten beim Zugucken und stellten Überlegungen an. Vermutlich saß er vor seinem Computer und lud sich Sexbilder aus dem Internet runter oder machte Cybersex. Vielleicht genießt er die Möglichkeit, daß ihm jemand zuschaut, vielleicht merkt er es auch gar nicht.

Sportlich rüttelte er an seinem Klaus. Vielleicht ist das einer der jungen Wilden irgendeiner Partei, der grad von Bonn nach Berlin kam und sich so der neuen Stadt körperlich nähert. Dann ließ er wieder von sich ab und starrte, irgendwie auf den Monitor (?) und werkelte mit beiden Händen irgendwas in die Tastatur. Fasziniert bis belustigt schaut Kathrin. „Nun mach doch mal endlich weiter!“

Was er auch tut. Stundenlang. Multimedial. Manchmal nimmt er ein Blatt von einem Stapel neben sich und betrachtet es. Wir vermuten: Pornographie. Sie überlegt, ob sie sich nicht ausziehen und auf das Fensterbrett stellen solle, um ihn so anzuspornen, tut es dann aber doch nicht wegen Absturzgefahr.

Statt dessen steigt sie so auf einen Stuhl und feuert ihn an, und wackelt mit teenagermädchenhafter Frische mit ihren Hüften und sieht dabei aus wie eines der Models aus dem Film „Blow up“. Ab und an kichert sie dabei. Stundenlang geht das so, weil man nett zu sich sein soll. Später steht er auf, macht das Licht aus. Es ist ziemlich heiß, und das Fernseherlicht flimmert in den Zimmern in den Häusern next door. Wir sind enttäuscht, daß er nicht abspritzt, und gruseln uns auch ein bißchen. In ihrem Haus gebe es noch analogen Sex, sagte Kathrin. Neulich zum Beispiel eine regelrechte analoge Sexarie auf jugoslawisch.

In den nächsten Tagen sprachen wir öfter übers Onanieren. Teils waren wir dafür, teils dagegen. In seinem Text „Lob der Pornographie“, der in der philosophischen Internetzeitschrift SiVe veröffentlicht wurde, plädiert Joachim Landkammer ganz entschieden für die pornographiegestützte Onanie. Derjenige, „der sich noch selbst auf aktiven Sex einläßt“, sei ein hoffnungsloser und lächerlicher Dilettant. Der Schriftsteller Charles Bukowski erzählt in einer Geschichte von verschiedenen Techniken der Selbstbefleckung, die mich als Teenager sehr beeindruckt hatten; u. a. mit rohen Steaks oder einem aufgeschraubten Telefonhörer.

Der Schriftsteller Peter Wawerzinek meinte – auf einer Bank vor dem Siemeck im Prenzlauer Berg (zuvor hatte er die Fernsehprogrammseite der Berliner Morgenpost bei einer großartigen Lesung gesungen) –, alles, was über drei- bis viermal hinausginge, sei von Übel. „Im Monat oder am Tag?“ fragte Kathrin. 1.000 Schuß, dann ist Schluß. Sommer 99: In der Zeitung steht wie jedes Jahr wieder dies widerwärtige Tucholsky-Dings da mit „die Seele baumeln lassen“.

Beim Volleyballspielen am Teufelssee lassen nur mit Turnschuhen bekleidete Männer ihre Seele baumeln. Im Freibad Weißensee sitzen nackte Frauen um die Sechzig immer in Kleingruppen herum, berichtet Susanne. „Das ist schon sehr auffällig.“

In Kleinmachnow wirbt die CDU mit dem Slogan „Schönes Wetter. Schöner Urlaub. Schönbohm“. Auf einer Hauswand in 61 steht: „Kampf der Innenpolitik!“ Katrin hat gerade eine sehr schöne CD gemacht, wo sie zu Dylan-Liedern singt: „Let it be me“. „Warum wollen so viele Menschen bei schönem Wetter sterben“, fragt die B.Z.

Wenn ich aus einem anderen Fenster gucke, steht ein Sarg im Fenster eines anderen Hauses. Wenn man bekifft ist in der Hitze, versagt man zuweilen beim Torabschluß, weil sich plötzlich ein anderer Gedanke zwischen Fuß und Ball stellt. Am Landwehrkanal in der Nacht übt man sich in Genrebildern, liegt auf dem Rükken, guckt den Himmel an und trinkt Bier aus Dosen. Wenn man das lang genug macht und still dabei ist, schaut der Himmel manchmal zurück.

Nun gibt es grad eine wehmütige Sommerpause mit sanftem Wind.

In Kleinmachnow wirbt die CDU mit dem Slogan: „Schönes Wetter. Schöner Urlaub. Schönbohm“Im Freibad Weißensee sitzen nackte Frauen um die Sechzig immer in Kleingruppen herum