: 200 Meter Gröpelingen
■ Die Lindenhofstraße dient StudentInnen der Hochschule für Künste zwei Wochen als Experimentierfeld für Projekte im öffentlichen Raum
Gröpelingen ist ein Kunstwerk. Nehmen wir nur die Lindenhofstraße, jenen 200 Meter langen Mikrokosmos am Rande des Industriehafens, wo angewelkte Hausfrauen nichts dabei finden, ihr dauergewelltes Haupthaar lila zu färben und es an haargelüberzogenen Türkenköpfen und blank rasierten Dummköpfen vorüber zu tragen. Wo die Backwaren nicht wie üblich von Frau Müller oder Herrn Maier, sondern von Familie Yüksel feil geboten werden. Wo die Eckkneipe unzweideutig „Zum Fass“ heißt und in unmittelbarer Nachbarschaft zur „Studio Bar“ liegt, die das andere männliche Urbedürfnis angebotstechnisch abdeckt. Und wo schließlich ein Kondomwurf von dieser sündigen Stätte entfernt die Islamische Moschee-Gemeinde die Moral stärkt, der Plattdütsche Verein „Gröpeln“ für seine Sendung „De Plattsnuten“ („alle 4 Weeken von Klock 18.04-19 Uhr im Offenen Kanal“) wirbt und Brünings Grill „Freude durch gutes Essen“ verspricht.
Ausgerechnet dieses Ambiente, wo alles, was ist, schon große Kunst ist, haben nun 18 StudentInnen der Hochschule für Künste zu ihrem Betätigungsfeld auserkoren. Zwei Wochen lang sind in Lebensmittelgeschäften, Bauwagen, Imbissstuben und an diversen Plätzen am Straßenrand insgesamt fünfzehn Kunstprojekte zu sehen, die allesamt den eigentümlichen Charakter des Viertels zum Thema haben. Ob in Claudia Hinschs Installation, die den PassantInnen vor der Fleischerei Strauß den lüsternen Blick auf totes Roastbeef und leb-lose Magensülze trübt, oder in Astrid Nippoldts dezenten Klangarbeiten, die die BesucherInnen eines Fahrradgeschäfts und einer Drogerie per Biotopgeräuschen leise daran erinnert, dass es ein Leben jenseits von Sonderangebotsschildern gibt – immer wieder versuchen die ausgestellten Arbeiten, Alltagswahrnehmungen mittels kleiner Interventionen zu brechen.
Wovon aber träumen die BewohnerInnen in diesem Multikulti-Stadtteil? Von einer Fahrt mit der transsibirischen Eisenbahn, wie sie Burchard Garlichs im REWE-Markt als Modell unter originalen klimatischen Bedingungen durch die Tiefkühltheke am Fürst-Pückler-Eis entlang fahren lässt? Von Plätzen, wie Mark Wiedemann sie auf dem Gehweg mit Schildern markiert hat, an denen es Junkies, Alkies und Bettlern hochoffiziell erlaubt wird, ihr Elend auszuleben? Oder doch eher vom neuen Kühlschrank, wie er strahlend weiß im Schaufenster eines Elektrogeschäfts lockt und auf dessen Oberfläche Karsten Joost per Videofilm an die Banalität des Alltags erinnert, die auch kein neuer Gefrierschrank plötzlich in eine sinnerfüllte Erlebniswelt verwandelt?
Vielleicht kann bald Sylvia May all diese Fragen beantworten. Denn zwei Wochen lang hat sie sich im Schaufenster des Gebrauchtmöbelladens „Recycling-Börse“ häuslich eingerichtet. Sie wird dort inmitten der ausrangierten Sitzgarnituren und Schrankwände ihre Mahlzeiten zubereiten, FreundInnen empfangen und übernachten. Und vielleicht, so hofft sie, führt diese Zurschaustellung ihrer Privatsphäre umgeben von jenen Gegenständen, die mal Teil der Privatsphäre der AnwohnerInnen waren, dazu, dass sich Gespräche mit den BesucherInnen der Recycling-Börse ergeben. Ein Dia-Abend mit Nachbarn, wo es Urlaubsbilder zu sehen gibt, ist jedenfalls schon geplant.
Doch wer weiß, wie lange die Lindenhofstraße noch ihren eigentümlichen Charme bewahrt. Denn StadtplanerInnen haben den Stadtteil zwischen Brachflächen und Space-Park-Visionen längst im Visier. Und entwerfen bunt designte Welten für jenen öffentlichen Raum, den die GröpelingerInnen im anarchischen Zugriff bislang nach eigenen undurchschaubaren Prinzipien erobert haben. In einem weißen Bauwagen vor der Stadtbibliothek haben Derk Claassen, Michael Mayer und Michael Henning diese Visionen vom Reißbrett collagiert unter der spannenden Frage, ob hier das Unmögliche möglich oder nicht doch eher im Gegenteil das Mögliche unwiderruflich unmöglich gemacht wird.
Entschieden ist das noch nicht. Und so kann man vorerst noch ein sehr spannendes Kunstprojekt an einem ziemlich wundersamen Ort genießen. zott
Das Ausstellungsprojekt mit Namen „Made in“ läuft noch bis zum 15. Oktober. Sylvia May, die Recycling-Börsen-Bewohnerin, veranstaltet in ihrer neuen Wohnung am 7. Oktober um 11 Uhr ein Frühstück für Arbeitslose und um 20 Uhr den Dia-Abend mit Urlaubsbildern. 12. Oktober, 20 Uhr: Doku der Aktion „Die Verabschiedung der Arbeitslosen“ von 1985 in Bild und Ton
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