: Wo Offizielle schweigen . . .“
Heute vor vierzig Jahren wurde die Ausstellung „Aktion Ungesühnte Nazijustiz“ in Karlsruhe eröffnet. Sie warf brisante Fragen auf: Wie legitim ist ein Staatswesen, in dessen Justiz ehemalige Angehörige der nationalsozialistischen Sondergerichte ihren Dienst versehen? Welche Lehren muss die Politik aus der Geschichte ziehen? Initiator der heftig umstrittenen Schau war der Sprachforscher Reinhard Strecker Von Michael Kohlstruck und Claudia Fröhlich
Keine Vitrinen, keine Rauminstallation, keine Bilder. Nur Texte: Gerichtsurteile, Auszüge aus Personalakten von Richtern und Staatsanwälten, Abschriften aus den Namenshandbüchern der deutschen Justiz. Die Ausstellung, die am 27. November 1959 in der Karlsruher Stadthalle eröffnet wurde, hat auch nach dem Urteil ihrer Veranstalter ästhetischen Maßstäben nicht genügt. Auf einfachen Tischen waren Kopien in 140 Schnellheftern ausgelegt; ergänzt wurden sie durch handschriftliche Texte auf Bahnen unbedruckten Zeitungspapiers.
Das Aufsehen, das diese Ausstellung dennoch in den frühen Sechzigerjahren erregte, entsprang ihrer politischen Strategie. Die „Aktion Ungesühnte Nazijustiz (Dokumente zur NS-Justiz)“ war die erste Ausstellung, die eine historische Aufklärung über die Verbrechen der NS-Justiz mit der Forderung nach politischen Folgen verband. In der Einladung zur Eröffnung hieß es: „Hunderte von heute wieder tätigen Richtern und Staatsanwälten haben während des Nazi-Regimes schwere Verbrechen begangen. Um diese Verbrechen – noch ehe sie verjähren – zu sühnen, hat der Bundesvorstand des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes die SDS-Gruppen an allen deutschen Universitäten und Hochschulen zur 'Aktion Ungesühnte Nazijustiz‘ aufgerufen.
Ziel der Aktion ist es, zu veranlassen, dass alle schwerwiegenden Vorwürfe gegen amtierende Richter überprüft werden und dass während und unmittelbar nach der Ausstellung Strafanzeigen gegen alle schwer belasteten Richter erstattet werden.“
Fünfzehn Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur warfen diese Forderungen brisante Fragen auf: Wie legitim ist ein Staatswesen, in dessen Justiz Angehörige der nationalsozialistischen Sondergerichte ihren Dienst versehen? Wie glaubwürdig ist eine Rechtspflege, deren Personal vor 1945 wegen Nichtigkeiten Todesurteile ausgesprochen hatte – allein im Reichsgebiet mindestens elftausend.
Bemerkenswert an dieser Ausstellung, die bis 1961 in neun weiteren westdeutschen Städten zu sehen war und auch in Oxford und London, in Amsterdam, Utrecht und Leiden gezeigt wurde, ist nicht nur die neue kämpferische Stoßrichtung. Bemerkenswert ist auch, dass sich diese Aktion einer studentischen Initiative verdankte und auf das Engagement einer Person zurückging, auf den Sprachwissenschaftler Reinhard Strecker. Liberale Zeitungskommentare hoben hervor, dass hier prinzipielle Fragen des politischen Ethos von Einzelnen zu einem öffentlichen Thema gemacht wurden: „Private also sind am Werke, wo die Offiziellen schweigen“, schrieb Ernst Müller-Meiningen jr. in der Süddeutschen Zeitung im Januar 1960 und fügte hinzu: „Nach dem Rechten zu sehen, kann unmöglich allein Sache von Privaten sein.“
Als Reinhard Strecker im Spätherbst 1954 nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt zum Studium nach Westberlin kam, machte er skandalöse Erfahrungen. So stieß er etwa auf Werner Ventzki, der 1953 Berliner Repräsentant des Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte geworden war. Zwischen 1941 und 1944 war Ventzki Oberbürgermeister von Litzmannstadt (Lodz). Unter Ventzkis Verwaltung herrschten im jüdischen Ghetto Hunger und Elend. Von den rund zweihunderttausend Ghettobewohnern überlebten höchstens siebentausend Personen die Naziherrschaft.
Anders als in Paris und London sprach in Westberlin kaum jemand von der mörderischen Vergangenheit des politischen und juristischen Personals. Strecker versuchte zunächst über den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages solche berufsbiographischen Kontinuitäten bei Ärzten und Juristen anzuprangern und Untersuchungen in Gang zu bringen. Erfolglos. Daneben hatte er, unterstützt von Kommilitonen und dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), mit Recherchen zu einzelnen Personen begonnen. Bis zum Herbst 1959 hatte die Gruppe Dokumente zu rund hundert Juristen zusammengetragen – der Grundstock für die Karlsruher Ausstellung. Die Materialien stammten einerseits aus frei zugänglichen Justizhandbüchern.
Brisanter waren die Kopien von Todesurteilen, deren Herkunft Anlass für viele Anfeindungen wurde. Nach seinem vergeblichen Versuch, Dokumente der NS-Sondergerichte in Westdeutschland einzusehen, hatte sich Strecker an den Ostberliner „Ausschuss für Deutsche Einheit“ gewandt. In der DDR indes traute man Strecker nicht recht, da er aus seiner Ablehnung des staatssozialistischen Modells keinen Hehl machte; andererseits, so eine Einschätzung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), bestand Interessenidentität mit Strecker in der Entlarvung der NS-Juristen. So erhielt Strecker Unterlagen aus den seit 1957 gegen frühere NS-Richter im Westen laufenden Kampagnen der DDR – und wurde gleichzeitig vom MfS beobachtet.
Auch im Westen wussten viele nicht, was sie von Strecker halten sollten: Er trat mit kopierten Dokumenten aus der DDR, aus Polen und der CSR auf und kritisierte den Mauerbau; er wurde von Generalbundesanwalt Max Güde empfangen, der ausdrücklich die Echtheit der ausgestellten Dokumente bestätigte, während sich der Parteivorstand der SPD von der Ausstellung distanzierte und gegen Parteimitglieder Ausschlussverfahren wegen ihrer Unterstützung der „Aktion Ungesühnte Nazijustiz“ liefen.
Das beruhigende Gefühl, den Unruhestifter Strecker als fremdgesteuerten Agenten einfach dem Westen oder dem Osten zuzurechnen, konnte sich nicht einstellen: Strecker war vom FDJ-Zentralorgan Junge Welt mehrfach wegen seiner Unterstützung geflüchteter Jugendlicher aus der DDR angegriffen worden, und er setzte seine Aufklärungsarbeit unter Nutzung der DDR-Unterstützung fort. 1961 veröffentlichte er eine Dokumentensammlung zu Hans Globke, den Adenauer zum Staatssekretär im Bundeskanzleramt gemacht hatte. Globke hatte seit 1932 im preußischen Innenministerium antisemitische Erlasse, Verfügungen und Gesetze ausgearbeitet.
Nach dem Ende des so genannten Großdeutschen Reiches waren vor allem die materiellen Folgen der Nazipolitik bearbeitet worden. Der Krieg hatte das Land zerstört, Millionen von Flüchtlingen waren zu versorgen, die Opfer der NS-Verbrechen hatten Anspruch auf Entschädigungs- und Wiedergutmachungsleistungen. Erst durch tief greifende politische Konflikte konnte sich im Laufe der Zeit die Interpretation des verbrecherischen Charakters des NS-Regimes durchsetzen. Damit wurde die „jüngste Vergangenheit“ zu einer Herausforderung für das politische Ethos der jungen Republik: Die herkömmliche Politikfolgenbewältigung wurde durch Diskurse der Vergangenheitsbewältigung ergänzt, die aus den Erfahrungen der Vergangenheit Konsequenzen für die staatliche Personalpolitik und Lehren für die Maßstäbe einer neuen politischen Kultur ziehen wollte.
Dazu gehörten die Forderung nach einem Abtreten der alten Eliten, die Aufklärung über die nazistischen Verbrechen und der Einsatz für eine Versorgung der NS-Opfer. Wer in dieser Weise während der Fünfziger- und Sechzigerjahre eine politische Neubesinnung einforderte, wurde von der Bevölkerungsmehrheit und ihren politischen Repräsentanten fast zum Nestbeschmutzer oder gar zum „trojanischen Esel Pankows“ erklärt. Zu öffentlicher Kritik gehörte vor allem Mut: Ein Großteil der NS-Funktionsträger bis zur Staatssekretärsebene war wieder in Amt und Würden und verfügte über weitreichende Machtmittel.
Ein persönliches Vorbild von Reinhard Strecker war Eckart Heinze (1922–1979), der sich als Journalist Michael Mansfeld nannte und im September 1951 mit einer Artikelserie in der Frankfurter Rundschau dagegen protestiert hatte, dass frühere Träger der NS-Außenpolitik wieder die wichtigsten Posten im Auswärtigen Amt besetzten. Adenauer hatte daraufhin gefordert, „jetzt mit der Naziriecherei einmal Schluss“ zu machen. Mansfeld hatte gleichwohl erreicht, dass ein Bundestagsuntersuchungsausschuss eingerichtet wurde. Ähnlichen Protest hatten auch Eugen Kogon, der Historiker Joseph Wulf und später Beate Klarsfeld eingelegt.
Im Rückblick zeigt sich, dass es solche Initiativen von Einzelnen waren, die einen kritischen Umgang mit dem Nationalsozialismus angestoßen haben. Sie haben dafür gesorgt, dass seine öffentliche Behandlung nicht länger nur im Rahmen der Verteidigung einer nationalen Ehre und eines kollektiven Selbstschutzes erfolgte. Erst die Forderung nach politischen Konsequenzen hat die Wertordnung des Grundgesetzes in der Praxis der politischen Kultur ratifiziert.
Mit diesen Initiativen wurden neue Formen der politischen Beteiligung in Westdeutschland eingeführt. Die entscheidenden Veränderungen trugen sich zwischen 1958 und 1965 zu, während der „Sattelzeit“ (Reinhart Koselleck) in der politischen Kultur der Bundesrepublik. Ohne die engagierten Demokraten der frühen Jahre sind die späteren Protestbewegungen schwer vorstellbar.
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