: Brav, bescheiden, unauffällig
So ist er, der einzige Green-Card-Inhaber im brandenburgischen Rheinsberg. Und das Beste: Er sieht auch noch genauso aus wie ein Rheinsberger
von JULIA NAUMANN
Die Wohnung sieht so aus, als wäre hier jemand auf der Durchreise: Die beiden Herdplatten sind blank geputzt. Einsam liegt auf dem Küchentisch ein Buch, der „Bulle von Tölz“, nach der gleichnamigen Fernsehserie. Auf der kleinen Kommode steht ein Reisebügeleisen. Nur das Foto einer lachenden Frau mit einem Säugling auf dem Arm erzeugt ein wenig Privatatmosphäre.
Doch der Bewohner der kleinen Bungalowwohnung ist nicht auf der Durchreise. Er möchte mindestens fünf Jahre bleiben. Vyacheslav Safronov kommt aus der Ukraine und ist Besitzer einer Green Card. Seit Oktober arbeitet und wohnt er in Rheinsberg, einem 5.000-Seelen-Nest in Brandenburg, 100 Kilometer nördlich von Berlin.
Auch das Büro des 35-Jährigen bei der NIS Ingenieurgesellschaft wirkt ziemlich steril. Keine Pflanzen, keine persönlichen Gegenstände. Nur der Computer prangt auf dem grauen Schreibtisch. Arbeit pur. Hier, etwas außerhalb von Rheinsberg in einem kleinen Gewerbegebiet, sitzt Vyacheslav Safronov neun Stunden täglich und programmiert Software für die kommunalen Behörden, zum Beispiel für das Umweltamt.
Vyacheslav Safronov braucht keine heimelige Atmosphäre, er ist vor allen Dingen ein fleißiger, unermüdlicher Arbeiter. Doch er ist kein kaffeetrinkender Kettenraucher, der sich von Junkfood ernährt und davon träumt, ein eigenes Start-up-Unternehmen zu gründen und deswegen die ganze Nacht durcharbeitet. Der Mann mit der übergroßen strengen Brille aus silbrigem Metall und den grauen Flanellhosen wirkt wie einer aus der ersten Generation, als die Computer noch riesige Kisten waren.
Und tatsächlich besteht sein Leben seit fast 15 Jahren aus Programmieren. Safronov hat in seiner Heimatstadt in der ukrainischen Stahlstadt Donetsk an der Universität Informationstechnik studiert und danach in verschiedenen privaten Unternehmen gearbeitet. Probleme, einen Job zu finden, hatte er nie.
Auch finanziell ging es Safronov gut. Ein Informatiker verdient zwischen 50 und 300 Dollar im Monat, wie viel er bekommen hat, will er nicht sagen. Nicht die D-Mark habe ihn gereizt, sagt Safronov, sondern „das Interesse am Ausland“. Dass er sich Deutschland ausgesucht hat, hat etwas mit seinem zwölfjährigen Sohn zu tun. Artrm lernt seit fünf Jahren in der Schule Deutsch und sein Vater paukt seit zwei Jahren regelmäßig abends das Lehrbuch durch. Deshalb hat Safronov im Dezember 1999 eine Anzeige auf eine deutsche Internet-Jobseite gestellt. Ein scheinbar aussichtsloses Unterfangen, denn zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine öffentliche Diskussion über die Green Card und Einwanderung, über Computerspezialisten aus Indien und Osteuropa.
Nicht nur zu diesem Zeitpunkt suchte Karl-Friedrich Pötter, Niederlassungsleiter der NIS Ingenieurgesellschaft, händeringend neue Programmierer. Der Betrieb, in dem 20 Menschen beschäftigt sind, leidet seit Jahren unter chronischem Fachkräftemangel. „Wir haben überall gesucht“, sagt Pötter. An den Hoch- und Fachschulen Berlins und Brandenburgs, mit Annoncen in regionalen und überregionalen Zeitungen. Ohne Erfolg. Es bewarben sich zwar viele Umschüler, doch die meisten von ihnen seien nicht einsetzbar gewesen. Denn das Ingenieurbüro braucht Programmierer, die auch ein technisches Verständnis haben. Die Elite zieht es nicht nach Brandenburg: Rheinsberg liegt zwar in einer reizvollen Landschaft, doch es gibt nicht einmal ein Kino. „Es ist schwierig, junge qualifizierte Menschen in die Provinz zu holen“, resümiert Pötter. Im Frühling vergangenen Jahres, als Bundeskanzler Schröder erstmals von einer Green Card spricht und Jürgen Rüttgers Parole „Kinder statt Inder“ durch die Öffentlichkeit geistert, treten Pötter und Safronov in Kontakt. „Er mailte mir eine lange fehlerfreie Bewerbung in deutscher Sprache“, erinnert sich Pötter bewundernd. Das sei ausschlaggebend gewesen, Safronov für einen Schnupperaufenthalt einzuladen. Die Programmiersprachen sind zwar international, doch bei Datenbankentwicklungen ist viel menschliche Kommunikation nötig.
Der dreiwöchige Aufenthalt im Juli überzeugt die Rheinsberger Firma und sie bieten Safronov einen Vertrag an. Safronov darf bleiben. Er braucht zwei Monate, um sein Visum in Kiew zu bekommen. In Deutschland machen die Behörden keine Probleme mit den Papieren. Die Einwanderung verläuft reibungslos und ohne Aufhebens, doch in Rheinsberg rumort es mittlerweile.
Grund ist ein Artikel, der im August in der Märkischen Allgemeinen Zeitung über Safronov erscheint. In dem Bericht heißt es, dass der künftige Arbeitgeber für ein Jahresgehalt von mindestens 100.000 Mark garantieren muss. Das ist unvollständig, denn die Bestimmungen besagen, dass der Green-Card-Bewerber einen Hochschulabschluss vorweisen oder ein künftiges Jahresgehalt von 100.000 Mark verdienen muss.
Doch die Rheinsberger Bevölkerung ist empört. In den Kneipen des Städtchens, in der die Arbeitslosigkeit bei 20 Prozent liegt und seit der Wende 1.000 Arbeitsplätze verloren gingen, wird in diesen Tagen erregt diskutiert, ist Pötter zugetragen worden. Ein Ausländer, der 100.000 Mark verdient – eine Provokation. Pötter möchte das Stammtischgeschwätz am liebsten vergessen. „Wir sind froh, dass diese Wunde geschlossen ist“, sagt der 54-Jährige. Und dann noch den Satz, den er in den letzten Monaten immer wieder gesagt hat: Safronov verdiene „deutlich unter 100.000 Mark“.
Obwohl inzwischen „Ruhe eingekehrt ist“, ist Pötter, der seit 30 Jahren in Rheinsberg lebt, besonders wachsam. Pötter spricht von einer „besonderen Fürsorgepflicht“ für seinen ukrainischen Mitarbeiter: „Es ist ein offenes Geheimnis, dass es hier schon Vorkommnisse gab“, sagt er etwas verschwiemelt.
Der Deutsch-Inder Rajvinder Singh hat 1997 für fünf Monate als Stadtschreiber in Rheinsberg gelebt. Er wurde mehrmals angepöbelt und am Telefon bedroht. Im Mai 1998 wurde eine Schulklasse aus Berlin-Kreuzberg angegriffen. Ein Jugendlicher schlug einen türkischen und einen dunkelhäutigen Jungen und stieß einen von ihnen mit dem Kopf gegen einen Bus. Der Leiter der Tucholsky-Gedenkstätte wurde kurze Zeit später von rechten Jugendlichen attackiert. Eine organisierte rechte Szene gebe es jedoch nicht, sagt die örtliche Polizei. Es handle sich nur um ein paar problematische Jugendliche, die mittlerweile einen eigenen Club haben. „Normale“ Vorfälle in einer ostdeutschen Kleinstadt?
Für die Kommune bedeutet jede Zeitungsschlagzeile einen herben Rückschlag für das mühsam aufgebaute Image eines weltoffenen toleranten Städtchens. Rheinsberg versucht seit 10 Jahren mit dem „Internationalen Opernfestival junger Sänger“ klassikhungrige Großstädter in die Provinz zu locken und so den Wirtschaftsfaktor Tourismus anzukurbeln. Doch das reicht nicht aus: Der Stadt geht es wirtschaftlich weiterhin schlecht, sagt der Bürgermeister Manfred Richter (SPD). Einzige Hoffnung sind die Fremden – die Hauptstädter zum Beispiel, vor denen die Rheinsberger anfänglich Angst hatten, dass „sie uns zuschütten“, wie Richter erzählt. Jetzt werden sie akzeptiert, weil sie ein bisschen Geld bringen. „Wir brauchen Fremde“, beschwört der Bürgermeister, als wolle er damit die Toleranz der Rheinsberger ankurbeln.
Doch in Rheinsberg leben nur zwei Ausländer. Ein Chinese und ein Italiener, die jeweils ein Restaurant betreiben. Und seit vier Monaten gibt es den Ukrainer Vyacheslav Safronov. Der fällt nicht auf: Mit seinem Bürstenhaarschnitt, dem grauen Strickpullover und dem blauen Anorak sieht er genauso aus wie ein Rheinsberger.
Morgens läuft er von seinem Flachdachbungalow, den ihm sein neuer Arbeitgeber bis April kostenfrei zur Verfügung gestellt hat, zur Firma, die in einem modernen mit holzverkleideten Gebäude einen gediegenen Charme ausstrahlt und am Waldrand liegt. Nach der Arbeit erledigt Safronov „seinen Haushalt“, wie er etwas ironisch sagt. Und lebt wie ein guter Deutscher: ein bisschen Fernsehen, momentan am liebsten „Wer wird Millionär“, und zwei, drei Büchsen Karlsquell-Bier zum Entspannen. Oder er schreibt E-Mails an seine Familie.
Karl-Friedrich Pötter ist mit der Wahl des Ukrainers auf jeden Fall zufrieden. „Er leistet sehr gute Arbeit und hat sich gut intergriert“, ist seine Zwischenbilanz nach vier Monaten. Integration heißt in diesem Fall Unauffälligkeit. Hätte die Firma einen Computerfachmann aus Indien angeheuert, so „wäre dieser sicherlich isolierter“, ist Pötter überzeugt. Mit dem osteuropäischen Kulturkreis haben die Rheinsberger bereits einige Erfahrungen gemacht – im Atomkraftwerk, in dem fast 700 Menschen beschäftigt waren, haben vor der Wende immer wieder für einige Wochen Sowjets, Tschechen und Polen gearbeitet. „Es gab eine große Internationalität und sogar ein paar Freundschaften“, erinnert sich Pötter, der bis 1990 in der Physikabteilung gearbeitet hat. Vielleicht lebt die bald wieder auf. Denn Safronov will im Sommer seine Frau Ina und seine beiden Kinder nachholen. Dann leben schon sechs Ausländer in Rheinsberg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen