: Ein Schuldiger ist gefunden
12 Jahre sind seit dem Anschlag von Lockerbie vergangen, 180.000 Beweisstücke wurden geprüft, 15.000 Zeugen gehört
von CHRISTOPH REUTER
Am Ende war es eine Glaubensfrage: für die beiden libyschen Angeklagten Fhimah und Megrahi, die unisono ihre Unschuld beteuert hatten; für die Frau eines der Absturzopfer aus Philadelphia, deren längst erwachsene Kinder sie überredet hatten, doch zum Prozess zu kommen, und der es nach eigenen Worten „egal war, welches Urteil die Richter sprechen – Hauptsache, dass sie überhaupt eines abgeben“; und schließlich für die drei schottischen Lordrichter, die sich auch nach 84 Verhandlungstagen und 230 gehörten Zeugen auf Indizien und Aussagen von vager Beweiskraft verließen, die – so vor Jahren der ebenfalls in der Sache Lockerbie ermittelnde Frankfurter Staatsanwalt Volker Rath – in Deutschland nicht einmal zu einer Verfahrenseröffnung gereicht hätte.
Gestern nun wurde Abdel Basset Ali al-Megrahi für schuldig und El Amin Kahlifa Fhimah für unschuldig befunden, am 21. Dezember 1988 in Malta einen Koffer mit einem Sprengsatz an Bord einer Zubringermaschine für den Pan-Am-Flug 103 nach New York geschmuggelt zu haben. Die Bombe explodierte und ließ die Boeing 747 über dem schottischen Ort Lockerbie abstürzen, tötete alle 259 Insassen und 11 Einwohner des Dorfs. Anders als beim libyschen Geheimdienstler Megrahi sah das Gericht bei Fhimah eine Tatbeteiligung nicht als erwiesen an.
„Mathematische Sicherheit ist in diesem Fall weder erforderlich noch erreichbar“, hatte Staatsanwalt Alistair Campbell schon vorsorglich am Ende des Verfahrens verkündet. Denn der Prozess, dessen Gesamtkosten auf über 150 Millionen Mark geschätzt werden, für den extra ein ehemaliger Luftwaffenstützpunkt in der niederländischen Heide zu einem exterritorialen schottischen Gericht umgebaut wurde, glich einem Sturm um eine leere Mitte. Mit Verve hatten die Ankläger ihr Belastungsmaterial vorgetragen und die Verteidiger es ihnen mit ebensolcher Verve wieder auseinander genommen. So erörterte etwa in seinem mehrtägigen Schlussplädoyer William Taylor, Anwalt der Verteidigung, fast drei Stunden lang allein die Frage, wo im Gepäckcontainer der Bombenkoffer gelegen habe: ganz unten, weiter oben, gekippt am Rand, oder stand er gar aufrecht? Immer wieder ließ er Dias verschiedener möglicher Gepäckanordnungen projizieren; erörterte die Untersuchungsergebnisse der Sprengstoffexperten, die mehrere Gepäckcontainer probehalber in die Luft gejagt hatten; untersuchte die Zeugenaussagen der Gepäckarbeiter und Baupläne der Gepäckabfertigungen in Malta, London und Frankfurt.
Eine aberwitzig erscheinende Akribie – und doch ein verfahrensentscheidendes Detail: Denn nur, wenn der Bombenkoffer aus Malta via Frankfurt in die Pan-Am-Maschine ab London gekommen war, konnten die beiden Libyer verantwortlich sein. Am Ende stand fest: Möglicherweise kam der Koffer aus Malta. Möglicherweise aber auch aus Damaskus, möglicherweise hat ihn auch ein Gepäckarbeiter in Frankfurt in den Container geschoben. Die schiere Masse der 180.000 im Lauf der Jahre untersuchten Beweisstücke, der 15.000 vernommenen Zeugen täuschte leicht darüber hinweg, dass in der entscheidenden Frage – woher kam die Bombe? – die Indizienkette bis zum Schluss eher einer Reihe Kieselsteine glich.
Dass es nun zu diesem Urteil, dass es überhaupt zu diesem Verfahren kam, lag daran, dass die Ermittlungen Anfang der Neunzigerjahre von der damaligen US-Regierung als höchst praktikables politisches Druckmittel genutzt wurden: Denn erst hatten die meisten Spuren auf eine Täterschaft der syrisch kontrollierten Palästinensergruppe PFLP-GC hingewiesen. Als aber Syrien 1990 als neuer Allierter im Golfkrieg gegen den Irak benötigt wurde, wechselte die Ermittlungsrichtung: Libyen wurde als Schuldiger ausgemacht und ein Flugembargo über Gaddafis Regime verhängt. Nicht damit rechnend, dass Libyen die Beschuldigten je ausliefern würde, behaupteten die USA jahrelang, eindeutige Beweise zu besitzen.
Insofern dürften alle Beteiligten über das Ende des Verfahrens froh sein: Die USA können anführen, dass ihr Embargo dem Recht zur Durchsetzung verholfen habe. Libyen kann wieder uneingeschränkt Geschäfte mit westlichen Firmen tätigen, die ihrerseits keine Angst mehr haben müssen, von den USA wegen Embargobruchs verfolgt zu werden.
Es gibt viele Spuren, die weiterhin zu Tätern aus dem Kreis der PFLP-GC um Ahmed Dschibril führen. Aber es gibt nirgends ein politisches Interesse, ihnen nachzugehen, denn weder die USA noch Israel wollen ihren einstigen Golfkriegsverbündeten und potenziellen Friedenspartner Syrien bloßstellen – und damit gleichzeitig den eigenen Irrtum eingestehen.
Yoram Schweitzer, ein regierungsnaher israelischer Terrorismusexperte, brachte es schon vor einem Jahr auf die nüchterne Formel: „Es ist doch am Ende egal, ob die Libyer allein das Flugzeug gesprengt haben oder ob noch andere darin verwickelt waren – entscheidend ist, dass dieses Embargo Gaddafi endlich an die Kette gelegt hat und er nicht länger jede Terrorgruppe, die in Tripolis vorstellig wurde, mit Sprengstoff, Geld und Waffen ausrüsten konnte.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen