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Ich will, dass es knallt

Littleton, Bad Reichenhall und andere Stahlgewitter: In Marc Höpfners Debütroman „Pumpgun“ endet die Suche nach einer anderen Wirklichkeit hinter den Bildern in einem Amoklauf. Click, Click... Die Popliteratur lädt nach – und macht weiter

von KOLJA MENSING

„Something in the street went bang bang / making it hard for you to do your thang thang“

Wu-Tang Clan: „Careful (Click, Click)“

Nach vier Jahren ist Alex auf dem Weg zurück in die Stadt. Metall trifft auf Metall, Funken sprühen, schreiende Menschen versuchen, mit den Armen ihre Köpfe zu schützen. Dann hört man eine Explosion, und Alex springt aus dem Auto. Es ist Krieg. Alex ist wieder zu Hause.

Eine Stunde später ist es vorbei. Alex sitzt auf der Leitplanke der Autobahn und raucht. Der Wind treibt schwarze Rauchwolken vor sich her, brennende Autowracks liegen am Straßenrand. Der Krieg war nur ein Auffahrunfall auf der kurzen Strecke zwischen dem Flughafen und dem Zentrum der Stadt. Ein Mann mit weißem Hemd und blauer Hose liegt auf der Straße, den Kopf aufgeschlagen und das rechte Bein verdreht, eine Frau mit einer Nickelbrille kniet neben einer Leiche. Alex ist nichts passiert. „Es gibt immer jemanden, der überlebt“, denkt er: „Das ist mein Schicksal. Ich bin jemand, den es nie erwischt.“ Damit beginnt Marc Höpfners Roman „Pumpgun“: mit dem unerträglichen Gefühl, wieder einmal davongekommen zu sein.

Alex betrachtet die ineinander verkeilten Autos, zündet sich nachdenklich noch eine Zigarette an und denkt an andere „Schlachtfelder und Kriegsschauplätze“, insbesondere an den Anblick, der ihn vor vier Jahren am ersten Tag nach den Sommerferien auf dem Schulhof erwartet hatte. Sein Mitschüler Alfred Oxenberger, genannt Ox, hatte sich in einem Turm des Schulgebäudes mit einer Remington-Schrotflinte und 44 Schuss Munition verschanzt und auf alles geschossen, was sich bewegte. Alex gehörte zu den Überlebenden.

„Pumpgun“ erzählt eine frei erfundene Geschichte. Man kommt aber nicht umhin, bei der Katastrophe, die im Mittelpunkt des Romans steht, zunächst an die Amokläufe an den Schulen von Littleton, Bad Reichenhall oder zuletzt in San Diego zu denken – an die so genannte Realität also.

Die ersten Überlebenden von diesen und anderen Katastrophen sind nicht die Menschen, sondern die Bilder, die die Reporter mit ihren Kameras vor Ort einfangen und die dann für alle Ewigkeit in die Archive und Netzwerke der Informationsgesellschaft eingespeist werden: Die Wahrnehmung der Wirklichkeit ist medial bestimmt, inszeniert wird sie vor allem auf Bildschirmen und Monitoren. Es ist nur konsequent, wenn Marc Höpfner den ersten Teil des Romans, in dem Alex’ Rückkehr in die Stadt und die Vorgeschichte des Amoklaufes beschrieben werden, „Die Sprache der Bilder“ überschreibt.

Es gibt keine eindeutigen Zeitangaben in „Pumpgun“, doch die Romanfigur Alex ist offensichtlich ein wenig jünger als der 37-jährige Debütant Höpfner selbst. Alex ist Anfang der Siebzigerjahre geboren, in einem Einfamilienhaus in der Wohnsiedlung der Stadt aufgewachsen und in den Achtzigerjahren zur Schule gegangen – im langen und scheinbar nicht enden wollenden Jahrzehnt der ersten Computerspiele und des sich beständig erweiternden Fernsehprogramms: „Seit meinem achten Lebensjahr hat die Welt einen rechteckigen Rahmen“, erinnert sich Alex.

Während er den pädagogischen Programmen der Eltern und der Lehrer angesichts ihrer austauschbaren Wahrheiten nur Gleichgültigkeit entgegenbringen kann, verschreibt Alex sich selbst von Anfang an einer Art medialer Erziehung des Geistes, die auf tiefere Einsichten in die Grammatik der Bilder abzielt. Als Kind schließt er noch die Augen, wenn er im Fernsehen etwas sieht, das ihm Angst macht. Doch schon als Teenager lernt Alex, die Bilder genauso zu beherrschen wie die Laserjets und Panzer an den elektronischen Geräten in der Spielothek, in der er sich nachmittags mit Ox und seinen Freunden trifft. Doch mit dem Fernsehen ist es wie mit einem Videospiel. Wenn man beim obersten Level angekommen ist und trotzdem immer wieder davonkommt, wird es eintönig: „Ich wollte die Grenzen jener heiteren Welt entdecken und sie, wenigstens in meinen Gedanken, eines Tages überschreiten.“

Alex entdeckt die Grenzen der heiteren beziehungsweise langweiligen Welt an jenem Sommertag nach den großen Ferien. Auf dem Weg zur Schule hört er Schüsse, sieht dann die zersprungenen Scheiben eines Autos und entdeckt schließlich die ersten Mitschüler, die in ihrem eigenen Blut auf dem Pausenhof liegen. „Meine Welt hat seit diesem Augenblick eine neue, endgültige Sprache“, erinnert er sich vier Jahre später, als er in die Stadt zurückkehrt und über das ewige Leben der Bilder von damals nachdenkt: „In der zersprungenen Welt sprechen Bilder eine neue Sprache . . . Sie können nicht mehr gelöscht werden.“

Die Bilder bleiben, das trifft auch auf einer anderen Ebene zu. Die Kriegsmetaphern, mit denen Marc Höpfner Alex zu Beginn den Unfall auf der Autobahn beschreiben lässt, schließen gemeinsam mit dem bürgerkriegsähnlichen Szenario auf dem Schulhof und dem Wunsch nach einer Wirklichkeit jenseits der Grenzen der Welt an ein bekanntes Motiv an. Es ist die von Ernst Jünger in den „Stahlgewittern“ beschriebene „Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen“, die ihn und viele andere junge Menschen 1914 in den Ersten Weltkrieg ziehen ließ – in der Hoffnung, auf den Schlachtfeldern Frankreichs Erfahrungen zu machen, die ihnen das „Zeitalter der Sicherheit“ vorenthalten hatte.

Das Spiel mit diesem Motiv hat Tradition. Michael Rutschky hatte bereits 1980 in seinem Buch „Erfahrungshunger“ in der Literatur der „unwirklichen Siebzigerjahre“ die Hoffnung wiedergefunden, in „Schrecken oder Schmerz“ möge endlich „die Wirklichkeit erscheinen“, und knapp zwanzig Jahre später stellt Alexander von Schönburg stellvertretend für seine vier Kollegen vom popkulturellen Quintett in „Tristesse Royale“ fest, dass „die Spannung weg ist . . . Unsere Langeweile bringt den Tod. Langsam komme ich zur Überzeugung, dass wir uns in einer ähnlichen Geistesverfassung befinden wie die jungen Briten, die im Herbst 1914 enthusiastisch die Rugby-Felder von Eton und Harrow, die Klassenzimmer von Oxford und Cambridge verließen, um lachend in den Krieg gegen Deutschland zu ziehen.“

Careful . . . In solchen Bemerkungen haben die Kritiker der so genannten Popliteratur – zuletzt Thomas Assheuer in der Zeit – die „Sehnsucht nach dem Abstieg vom Zauberberg“ und den „autoritären Wunsch nach Ordnung“ gefunden. „Pumpgun“ stellt sich genau in diese Schusslinie. Click, Click . . .

„Ich will, dass es knallt. Bang Bang“, sagt Alex zu Beginn des zweiten Teils des Romans. Auf die blutige Suche nach der Wirklichkeit hinter den Bildern im ersten Teil folgt nun der zuletzt ebenso blutige Realitätsverlust des Protagonisten. Alex versucht wie in einem pathetischen amerikanischen Thriller, den wahren Schuldigen für das Massaker zur Verantwortung zu ziehen: seinen ehemaligen Freund und Mitschüler Pauly, der Ox zu der Tat angestiftet hat und es mittlerweile zu einer Art Gangsterboss gebracht hat.

Nachdem der erste Teil des Romans mit Motiven aus Michael Lermontows Roman „Ein Held unserer Zeit“ gespielt hatte, mit Thomas Manns „Zauberberg“ und eben Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“, arbeitet sich der zweite Teil unter dem Titel „Die Trägheit des Auges“ an den Bildern ab, die scheinbar unauslöschbar durch die Archive der Popkultur geistern. Alex geht wie Robert De Niro in „Taxi Driver“ auf einen schlaflosen Rachefeldzug und mischt seine Stadt auf wie der namenlose Detektiv in Dashiell Hammets „Rote Ernte“.

Vor allem aber achtet er darauf, dass die Musik in seinem Autoradio und seinem Kopf nicht zu leise wird. Der Soundtrack, der jetzt im Hintergrund des Romans mitläuft, ist nicht zu überhören. I see everything is broken down: Alex hat gesehen, wie die Welt in sich zusammenfällt, und nun steigt er aus ihren Ruinen empor wie der Junge in Billy Idols „World’s Forgotten Boy“ – einem Titel aus dem Jahr 1986, dem Marc Höpfner auch das (anonymisierte) Motto von „Pumpgun“ entnommen hat.

Der Höhenflug dauert nicht lange an. Die Kapitel werden kürzer und fragmentarischer, und trotz einiger rasanter Autofahrten gerät „Pumpgun“ im zweiten Teil zunehmend ins Stocken. Auf den letzten Seiten kommt er dann in einem kitschigen Bild vollends zum Stillstand: Die Hand einer jungen Frau berührt Alex, der blutüberströmt in seinem Auto liegt, das Autoradio spielt inzwischen Adriano Celentano. Die Luft wird dünn.

Up there so high where the air is so thin, you look for signs: Dass für Alex genau wie für Billy Idols rock and roll boy der anfangs scheinbar noch unendliche Zeichenvorrat zur Neige geht, ist sozusagen die Lehre, die Marc Höpfner bereithält – und das nicht nur für seinen kurzatmigen Helden. „Pumpgun“ ist eine Art Experiment, eine zweiteilige literarische Versuchsanordnung, die noch einmal Grund und Scheitern aller Heilsversprechungen der Popkultur durchspielt und danach in sich selbst zusammenfällt. Das ist die Stille nach dem Schuss. „Ich wollte, dass alles aufhört, alles. Die Straße, die Leute, die Häuser, alles“, hatte Ox vor Gericht gesagt, als er nach den Motiven für seine Tat befragt wurde. Die Formulierungen stammen diesmal nicht von Billy Idol, sondern sind die Parodie eines Rolf-Dieter-Brinkmann-Zitats.

Das passt auch. „Pumpgun“ ist Popliteratur, gehört also zu einer literarischen Gattung, die bisher vor allem aus Abgesängen zu bestehen schien. Gegenüber dem wortreich beschriebenen endzeitlichen Spannungsverlust und dem darunter liegenden traurigen Schweigen in „Tristesse Royale“ geht dieser Roman allerdings schon mal ziemlich weit. Marc Höpfner weiß, dass er zusammen mit Alex mit dem Rücken an der Wand steht. Trotzdem ziehen beide zum Schluss noch einmal den Abzug durch. Irgendjemand überlebt ja immer. Und dann geht es erst so richtig los. Careful. Click, Click . . .

Marc Höpfner: „Pumpgun“. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2001. 244 Seiten, 38 DM

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