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Vom Garnichts und vom Etwas

In der Neuköllner Werkstatt des Wissens erforschen Kinder das Nichts. Das hat viele Gesichter. Vom leeren Kühlschrank über negative Zahlen bis zu Ground Zero. Kinderwissen ernst genommen, eröffnet auch Wissenschaftshistorikern neue Erkenntnisse

„Ein Mädchen im Haus hat einen Vater, der sitzt vor dem Fernseher und ist faul. Das Mädchen hat Hunger und geht zum Kühlschrank, aber da ist nichts“

von WALTRAUD SCHWAB

Was ist das Nichts? – Geradezu vermessen ist es, dazu Kinder zu befragen. Dennoch läuft im Neuköllner Comeniusgarten und der damit verbundenen Werkstatt des Wissens ein groß angelegtes Experiment, bei dem Kinder das Nichts erforschen. Wissenschaftshistoriker und -historikerinnen begleiten sie. Denn – so der Anspruch des Projekts – indem die Wissenschaft die Fragen der Kinder ernst nimmt, wird auch der Blickwinkel der Akademiker erweitert.

Phrasen aus Zeitungen zeigen den Weg zum Projektraum: „Ground Zero. Ins Nichts verschlagen. Die schwarze Null. Null Bock. Nullnummer. Dichte Leere. Blinder Fleck.“ Für alle, die angesichts der Fragestellung eine Ratlosigkeit ereilt, bieten diese Schlagwörter schon ein paar Hinweise.

„Kein Geld haben, keine Sachen haben, nichts unternehmen“

Was kann das Nichts sein? In der Physik ist es das Vakuum. Für die Mathematik wäre es die Null. Auch die negativen Zahlen. Die allerdings beschäftigen die Philosophen ebenso. In der Psychologie ist das Nichts vielleicht als Leere zu bezeichnen und in der Biologie als Tod, Verwandlung, Metamorphose. Im Denken aber sei das Nichts das Nein, wie Henning Vierck, der Initiator des Projekts sagt. „Um denken zu können, brauchen wird das Nein.“ Warum? An die Verneinung sei Entscheidungsfähigkeit und individuelle Wahrnehmung gebunden.

Zu allen Aspekten des Nichts wird in der Werkstatt des Wissens experimentiert. Seit Wochen rennen die Neuköllner Kinder dem Projekt die Türen ein. Denn es hat sich herumgesprochen, dass dort kleine Wunder geschehen: Schmetterlinge schlüpfen aus Puppen, Wasser fliegt durch die Luft, Menschen verschwinden im Nebel. Die Fragen und die Welterklärungen der Kinder dazu werden ernst genommen. Belehrt wird hier niemand.

„Was ist das Nichts?“, fragt die Wissenschaftshistorikerin Stephanie Giese die Kinder, die in den Projektraum kommen. „Eben gar nichts“, sei eine Antwort, die oft gegeben wird. „Was ist das Gegenteil vom Nichts“, fragt Giese, die eigentlich vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte kommt, weiter. „Etwas.“ – „Und wo ist das Nichts?“ Oft antworteten die Kinder: „Kein Geld in der Tasche.“, „Nichts im Kühlschrank.“, „Ein leeres Zimmer.“

„Das Nichts ist nichts“

Letzteres ist ein Stichwort. Die Kinder werden in einen White Cube, einen weiß gestrichenen, Raum, geführt. „Ist hier wirklich nichts?“, fragt Giese. Allmählich entdecken die Kinder, dass doch allerhand da ist: die Wand, die Steckdose, du, ich, die Luft, das Licht, der Schatten, die Zeit, das Loch in der Wand, das als Tür identifiziert ist. „Ist das wirklich eine Tür?“, fragt die Wissenschaftlerin. „Kann ein Raum so leer sein, dass alles fehlt?“, will sie weiter wissen. Ein Kind antwortet: „Man muss einen Jogurtbecher leer essen und putzen und den Deckel wieder drauf kleben.“ – „Und wie bekommen wir die Luft raus?“ – „Mit dem Staubsauger.“

Wie gewinnen Kinder Erkenntnisse? Und lassen sich daraus Konsequenzen für die Vermittung von Erkenntnis in Kunst und Wissenschaft ziehen? Dies sind Fragen, denen in diesem Projekt, das eigentlich als Ausstellung bezeichnet wird, weil die Erkenntnisse der Kinder dokumentiert und ausgestellt werden, nachgegangen wird. „Durch die Fragen der Kinder sind die Wissenschaftshistoriker mit etwas konfrontiert, auf das sie selbst nicht mehr kommen“, erläutert Initiator Hennig Vierck. „Durch die Auseinandersetzung mit Kindern sind die Wissenschaftler selbst gezwungen, einfach zu sein. Und punktuell bekommt man von den Kindern Antworten, die in der Wissenschaftsentwicklung tatsächlich eine Rolle spielen.“

„Wenn ich Bonbons klaue und mich jemand fragt: ‚Was hast du denn da?‘ und ich mich erschrecke, sage ich: ‚Ach, nichts‘“

Viercks Lieblingserlebnis mit den beiden Rabauken Ibrahim und Steven verdeutlicht, was er meint. „Was ist zwei minus drei?“, fragt er die Achtjährigen. „Komisch, aber ich würde sagen: eins“, antwortet Steven. „Das muss doch weniger sein“, wirft Ibrahim ein. „Vielleicht minus eins.“

Vierck gibt beiden Recht und verdeutlicht das Problem an zwei Buntstiften. „Wie muss der dritte Buntstift aussehen“, fragt er. „Wie ein Geist“, antwortet Ibrahim. Für Vierck eine Sternstunde der Erkenntnis, denn es muss etwas geben, um die Negativität einzuführen. Eine geistige Größe. Fantasie, Schöpfungskraft. „Reflektionslogisches Substrat“, nennt es Vierck. Ibrahim hat das auf den Punkt gebracht.

„Das Nichts ist im All, weil da kein Leben ist“

Die Experimente, die die Kinder durchführen, sind einfach: ein Blatt immer weiter zerreißen und fragen, was passiert, wenn es wirklich nicht mehr kleiner zu kriegen ist? Dazu drei Vermutungen der Kinder, die das Kleinstmögliche erklären: „Ich kann nicht mehr weitermachen, weil ich es nicht mehr sehe.“, „Ich kann nicht mehr weitermachen, weil das Mikroskop nicht mehr groß genug ist.“, „Ich kann nicht mehr weitermachen, weil es nicht mehr weiter zerkleinert werden kann.“ Mit letzter Antwort sind die Kinder nicht weit vom Atom entfernt.

Natürlich ist genug Stoff zum Staunen da. Wenn ein schrumpliger Apfel im Vakuum wieder schön wird. Warum? Wenn man in einer spiegelnden Halbkugel außen mehr sehen kann, als mit dem Auge und innen in der Kugel das, was zu sehen ist, auf dem Kopf steht. Warum? Wenn sich eine Luftblase in einem gefüllten Glas durch Druck auf den Deckel nach unten bewegt. Warum? Mit welchen Methoden gehen die Kinder vor, wenn sie all das erklären sollen? Dazu Vierck: „Sie machen wenig Analogieschlüsse. Es ist faszinierend, wie oft Gott und Geister das Ganze erklären.“ Dazu die neunjährige Sarah: „Die Luft ist das Nichts. Das Nichts ist Gott.“ – „Und atmen wir ihn ein?“ – „Manchmal.“

„Die Luft ist nichts, die kann man nicht sehen und nicht hören“

Aus all den Fragen zum Nichts sind in den viereinhalb Monaten, seit das Projekt läuft, neue Fragen entstanden. Als Stichworte hängen sie an den Wänden: Tod, Verwandlung, verkehrte Welt, Weltende, Verschwinden, sichtbar und unsichtbar, außen und innen. Die Gedanken der Kinder sind an den Wänden zu lesen. Die 6-jährige Ronja erklärt sich das Weltende so: „Da fliege ich geradewegs zum Prinzessinnenberg, auf dem eine Blume ist.“ Gemalt hat sie die Szene auch.

Die Ausstellung, die in der Werkstatt des Wissens entsteht, heißt „Künstler, Wissenschaftler, Kinder und das Nichts“. Noch bis Anfang November entsteht sie. Wer sie sehen will, muss bereit sein, sich mit dem Nicht-Ausgestellten zu beschäftigen. Fertig ist die Ausstellung erst, wenn sie geschlossen ist.

„Künstler, Wissenschaftler, Kinder und das Nichts“ läuft noch bis 2. November, täglich von 16 bis 19 Uhr. Gruppen nach Vereinbarung. Tel: 0 30/68 23 73 04. Comeniusgarten, Richardstraße 35, 12043 Berlin-Neukölln

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