Der Wohltäter versteht die Welt nicht mehr

Exsozialminister Blüm macht gegen die CDU-Chefin mobil. Doch am Niedergang des Sozialstaats ist er selbst schuld

Wenn einer so lospoltert, dann ist wahrscheinlich auch enttäuschte Liebe im Spiel. „Salopper Snobismus“, „Gleichmacherei“, „sozialistische Nivellierung“ – das sind die Vokabeln, mit denen der langjährige CDU-Sozialminister Norbert Blüm seine Parteichefin in diesen Tagen überzieht. Dabei hatte er deren Amtsantritt im Frühjahr 2000 euphorisch begrüßt. „Was mir bei der Merkel gefällt“, rühmte er damals, sei ihre „natürliche Unbeholfenheit“.

Jetzt muss Blüm erleben, dass von Unbeholfenheit keine Rede sein kann. Nicht mal in Nordrhein-Westfalen, einer Bastion des CDU-Sozialflügels, konnte der 68-jährige Exminister seine Parteifreunde noch gegen die 49-jährige Vorsitzende in Stellung bringen. Im Gegenteil. Auch jene Christdemokraten, die den Sozialstaatsabbau kritisch beäugen, sähen Blüm lieber schweigen. Das ist auch eine Generationenfrage. Schließlich sind viele in Merkels Altersgruppe davon überzeugt, dass die Generation Blüm den heutigen Schlamassel verursacht hat.

16 Jahre lang amtierte Blüm als Sozialminister, länger als jeder andere Politiker in Kohls Kabinett. 16 Jahre lang war er mit nichts anderem beschäftigt als mit dem beständigen Ausbau sozialer Leistungen. Die Zukunftsprobleme des Sozialstaats, die bereits damals heftig diskutiert wurden, ignorierte er fast vollständig.

So erfand niemand anderes als Blüm jenes famose Frührentenmodell, das heute Renten- und Arbeitslosenkasse ruiniert. Mit üppigen Bundeszuschüssen wurde den Arbeitnehmern seit 1983 schon mit 59 Jahren der Abschied vom Arbeitsplatz versüßt, vier Jahre später durften die Firmen ihr Personal sogar mit 57 Jahren nach Hause schicken – diesmal auf Kosten der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit. Offiziell als arbeitslos gemeldet, durften die fidelen Pensionäre volle 32 Monate Arbeitslosengeld kassieren.

Auch andere Bevölkerungsgruppen überschüttete der Minister mit finanziellen Wohltaten. Er setzte Verbesserungen bei der Hinterbliebenenrente ebenso durch wie die Anrechnung von Erziehungszeiten und eine Sonderregelung für „Trümmerfrauen“. Im Zuge der Wiedervereinigung übertrug der Minister, der bis 1991 auch für die Krankenkassen zuständig war, das komplizierte westdeutsche Sozialsystem unverändert auf den Osten des Landes. Mit der Einführung einer völlig neuen Sozialversicherung, diesmal für die Pflege, stellte er sich 1994 in eine Reihe mit Bismarck.

Für die Betroffenen war all dies hilfreich – doch um die langfristige Finanzierung sorgte sich Blüm nicht. Zuletzt war er gezwungen, selbst die ersten Schritte Richtung Abbau zu machen, etwa mit der Einführung des „demografischen Faktors“ bei der Rentenversicherung.

So wurde Blüm zu einem Politiker, der die neue Zeit nicht mehr versteht – und das, was er liebt, dadurch zerstört, dass er unbeweglich daran festhält. Der Oskar Lafontaine der CDU, wie es ihm sein Nachfolger im NRW-Landesvorsitz vorhielt, ist er deshalb nicht. Eher ein tragischer Doppelgänger des französischen Politikers Jacques Necker. Der populäre Finanzminister Ludwigs XVI. versuchte die Monarchie mittels großzügiger Staatsausgaben zu retten. Doch irgendwann war der Fiskus nicht mehr zahlungsfähig. Die Revolution brach aus, und der Minister flüchtete in die Schweiz.

RALPH BOLLMANN