bücher für randgruppen: Dschungelnüsse
In den Zeiten, als Forscher, so genannte Entdecker und Eroberer aus Europa, sich aufmachten, die Welt zu erkunden – will heißen: in ihrem Sinne zu kolonisieren und zu gestalten –, führten sie oft ein Reisetagebuch mit sich, in das sie allerlei Merkwürdiges notierten. Als eines der schönsten gilt das mit vielen kolorierten Zeichnungen versehene Manuskript des Indienreisenden Caspar Schmalkalden, entstanden zwischen 1642 und 1652, das kürzlich erschienen ist in der Edition Erdmann.
Der aktuelle Typus ist der des „sanften“ Rebellen, des zivilisationskritischen Einzelgängers, der sich aufmacht, nach den letzten noch unzerstörten Resten des „Natürlichen“ zu suchen, es zu schützen und zu bewahren. In diese Kategorie fällt der Schweizer Bruno Manser, der einige Jahre im inzwischen stark dezimierten Regenwald von Sarawak in Malaysia mit den nomadischen Penan lebte. Durch sein Engagement für die Belange dieses kleinen Volkes und seiner Umwelt machte sich Manser in Europa einen Namen.
Auf jeden Fall ist Bruno Manser seit fast fünf Jahren verschollen und soll im Dezember dieses Jahr für tot erklärt werden. Ob er nun von der Holzmafia ermordet wurde, in eine Sinnkrise mit tödlichem Ausgang geriet oder vielleicht sogar wieder auftaucht, darüber kann nur spekuliert werden: der Stoff, aus dem die Mythen sind. Das kann von den vorliegenden Tagebüchern nicht behauptet werden.
Vermutlich eignen sie sich nur sehr beschränkt für Forschungszwecke. Als Reiseliteratur sind sie nicht zu genießen, als Bilderheft ebenso wenig. Am ehesten könnten sie als zeitgenössisches Dokument eines grandiosen Missverständnisses bestehen, das nicht so selten anzutreffen ist, um es einzigartig zu nennen: ein zivilisationsmüder Europäer auf der Suche nach einem Volk, „das autark und ohne Geld in seiner frei gewachsenen Kultur lebt“.
Bereits auf der Hinreise gibt es den ersten Versuch, selbst in die Haut des edlen Wilden zu schlüpfen: „Donnervogel“ nennt Manser das Flugzeug, in dem er selbst „die staunenden Sinne auf Himmel und Wolkengebilde richtet“, während die anderen „Passagiere gelangweilt über ihrem Menü im Plastik-Wegwerf-Geschirr“ sitzen. Ein Entwurzelter auf Wurzelsuche. Einmal angekommen, siegt dann doch der alte Überlegenheitsgestus. So erklärt er den Einheimischen, die gerade eine Boa töten wollen, dass Schlangen „gute Tiere“ sind. Zum Dank entleert die Boa eine stinkende Flüssigkeit auf den großzügigen Retter: „Da mein Tisch reichlich mit Fisch gedeckt ist, schenke ich dem Tier wieder die Freiheit!“ Den Tagebuchnotizen des Sinnsuchenden entströmt ungebremster Exotismus. Alles um ihn herum, alles das, was anders ist, sein soll und sollte, wird zum Objekt einer Identitätssuche und füllt eine offensichtlich vorhandene große Leere aus.
Der Dschungel verwandelt sich in ein „Gotteshaus“, Felsen werden zum „Altar“ und diese zum „Ort der Kraft“. Nur schwer lässt sich diese Melange aus Sentimentalität, moralinsauren Plattitüden und arroganter Selbstinszenierung ertragen. Manchmal wirken die Naturbeschreibungen wie grobe Freud’sche Versprecher, wenn beispielsweise „Frau Schildkröte (!) ihren langen Giraffenhals wie einen Penis aus der Vorhaut streckt“. Oder platt rassistisch, wenn dem Tagebuchverfasser vor dem Blick eines hünenhaften Menschen schaudert. „Warum?“ Weil er „wie eine Mischung aus Mongole und Araber“ wirkt. Gleich Adam vor dem Sündenfall kostet er unbekannte tropische Pflanzen, bis er schließlich entdeckt, dass „Pokuk Klupan“ am besten schmeckt. Die Folge ist Übelkeit. Später bestätigen ihm die Einheimischen die Giftigkeit der Nuss. Um zu diesen Erkenntnissen zu gelangen, muss niemand nach Malaysia fahren.
WOLFGANG MÜLLER
Bruno-Manser-Fonds: „Tagebücher aus dem Regenwald“. 4 Bände, 720 Seiten, zahlr. Abb., Christoph Merian Verlag, Basel 2004, 64 Euro
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