piwik no script img

„Eiskalter Technizismus“ eines Schöngeistes

Die Sammlung Industrielle Gestaltung zeigt eine umfassende Werkschau von Horst Michel zum 100. Geburtstag des DDR-Stardesigners

„Qualität ist das Sinnvolle, das Echte, Beständige. Äußere Kennzeichen der Qualität ist die gute Form, die durch Klarheit und Einfachheit überzeugend und schön ist.“ Gemessen an der Direktheit der Aphorismen, die der Designer Horst Michel formulierte, weist seine Karriere in den ersten zwei Jahrzehnten der DDR zahlreiche „Blindflecken“ auf. Ihnen gilt das Augenmerk der Ausstellung über den Hochschullehrer und Designpolitiker, die zum 100. Geburtstag Horst Michels in der Sammlung Industrielle Gestaltung zu sehen ist.

Dass Michel erst ein Jahr vor seiner Emeritierung 1970 zum ordentlichen Professor ernannt wurde, begründete sich aus dem Vorbehalt gegenüber moderner Gestaltung. Den klaren und schlichten Formen wurden schon früh „fehlende Volksverbundenheit“ unterstellt. War es Rache von Michel, der „gegen die Ausbeutung des Volkes durch Kitsch“ polemisierte, dass er in der kurzen historisierenden Phase der DDR-Architektur, der die „Stalinallee“ entstammt, heimlich, aber konsequent Entwürfe aus den späten 1930er-Jahren reaktivierte?

Legendär wurde die heftige Kritik im SED-Parteiorgan Neues Deuschland an seinem Beitrag für die „V. Deutsche Kunstausstellung“ 1962. Der damalige Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht war entsetzt über die schwarzen und weißen Zylindervasen. Auch das Foto, das den Politiker auf einem Stuhl von Michel zeigt, wurde nicht veröffentlicht. „Krasser Funktionalismus“ bis „eiskalter Technizismus“ lauteten die Vorwürfe, und nur die Schauspielerin Gisela May hatte den Mut, Michel und seine Formgebungen in einem Leserbrief zu verteidigen.

Diese Geschichten ranken sich in Form von Zeitungsartikeln und Manuskripten um die Stühle, Porzellane und vor allem Textilien, die Michel entworfen hat und die – anders, als ihre vielfache Publikation es vermuten lassen – kaum in Serie produziert wurden. In der Sammlung Industrielle Gestaltung wird endlich dieser Teil von Michels Wirken angemessen gewürdigt.

MIKAS

Die Ausstellung „Grenzüberschreitungen“ läuft noch bis zum 5. September 2004. Sammlung Industrielle Gestaltung, Knaackstr. 97, 10435 Berlin-Prenzlauer Berg, Öffnungszeiten: Mittwoch bis Sonntag von 13 bis 20 Uhr

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen