: Palast ohne Republik
„Das hier war unser Leben“: Weil Walter Ulbricht es so wollte, baute ihr Mann die klassizistisch angehauchte Stalinallee. Dabei mag Irene Henselmann moderne Architektur eigentlich viel lieber
VON SANDRA LÖHR
Die Fenster gehen bis auf den Boden und geben den Blick auf die Hochhaus-Silhouette des Alexanderplatzes frei. Unten auf der Straße wälzt sich der Feierabendverkehr vorbei, aber hier oben im 7. Stock des „Haus des Kindes“ hört man weder die Blechlawine, noch deutet irgendetwas auf moderne Architektur hin. „Mein Mann hat dafür gesorgt, dass hier gute Doppelglasfenster eingebaut werden“, sagt die zierliche alte Frau, die in einem Sessel vor dem Panoramafenster sitzt, und obwohl sie es wie beiläufig sagt, hört man doch den Stolz aus ihrer Stimme heraus.
Irene Henselmann sitzt in ihrer geräumigen Dreizimmerwohnung im Haus des Kindes am Strausberger Platz im Stadtteil Mitte, und wenn die Neunzigerjahre nicht schon längst vorbei wären, würde einem zu ihrer Wohnung vielleicht das Adjektiv „retro-schick“ einfallen. Auf dem Fußboden liegt ein gepflegt-gealtertes Parkett aus den 50er-Jahren, die Möbel sind ein Mix aus 50er-, 60er- und 70er-Jahren und die Räume haben hohe Decken und einen Stuckfries. Zwischen den einzelnen Zimmern gibt es Flügeltüren mit alten handgearbeiteten Glasfenstern und die Küche ist das, was man getrost als Wohnküche bezeichnen kann. Die einzelnen Zimmer sind so verbunden, dass man einmal im Kreis durch die Wohnung gehen kann, und eine Kreisbewegung in ihrem Leben ist es auch, die Irene Henselmann wieder in diese Räume geführt hat.
Seit 1997, nach dem Tod ihres Mannes Hermann Henselmann wohnt sie wieder in dem Haus in der ehemaligen Stalinallee, die Anfang der Fünfzigerjahre inmitten der sozialistischen Aufbruchstimmung unter seiner Aufsicht gebaut wurde. Damals benutzte man das Schlagwort von den „Arbeiterpalästen“. Die große Straße sollte als Verheißung für das Leben in der neuen Gesellschaft stehen. Hier sollten Arbeiter neben Professoren in hellen, geräumigen Wohnungen mit Fahrstuhl, Heizung und Bädern wohnen. Für Irene Henselmann war das damals eine wichtige Zeit: „Als wir das hier gebaut haben, das war ja unser Leben. Wir hatten ja noch nicht gelebt. Als die Nazis kamen, war ich 18!“
Sie sagt, dass sie gerne in diesem Haus lebt, das zu der Straße gehört, die einst als steinernes Versprechen für das sozialistische Leben galt, aber eigentlich mag sie lieber moderne Architektur: „Die Westdeutschen können es vielleicht nicht verstehen, aber wir haben uns ja damals in erster Linie als moderne Architekten und Linke verstanden. Wir hassten zum Beispiel das Stadtschloss. Aber die Russen waren unsere Herrscher und versuchten uns nun beizubringen, dass das, was die da in Moskau bauten, schön sei. Als mein Mann seine Pläne zeichnete, hieß immer: Ihr müsst euch am Riemen reißen, das geht nicht so weiter mit den modernen Dingern, das ist kapitalistisch. Ihr müsst für das Volk bauen und die finden etwas anderes schön, und das stimmte ja auch. Diese modernen Bauten, das können die Leute nicht leiden.“
Genau wie viele andere Architekten im sozialistischen Teil Deutschlands hoffte auch Hermann Henselmann nach der Zeit des Nationalsozialismus wieder an die Tradition des Bauhauses anknüpfen zu können. Aber als Ulbricht 1949 nach Moskau reiste, kam er mit der Order zurück, dass man sich an dem sowjetischen Städtebau zu orientieren habe. Und der hatte der internationalen modernen Architektur und dem russischen Avantgardismus schon 1934 eine Absage erteilt. Aber das Problem erledigte sich irgendwann von selber. In den späten Jahren der DDR war die Stalinallee, die nach dem Tod Stalins in Karl-Marx-Allee umbenannt wurde, irgendwann nicht mehr das Maß aller Dinge. Die Euphorie der Anfangsjahre war der Realität von Materialknappheit und Engpässen in der Produktion gewichen. Um möglichst vielen Menschen eine Wohnung zu beschaffen, wurde in kleinerem und bescheidenerem Maßstab gebaut. So blieb die Stalinallee letztendlich nicht nur eine Utopie des Sozialismus, sondern auch eine Utopie der DDR, denn die konnte sich die großzügigen Wohnungen schlicht und einfach nicht leisten.
Irene Henselmann ist jetzt 89 Jahre alt. Sie hat ihr ganzes Leben gearbeitet, und während ihr Mann nach dem Zweiten Weltkrieg Karriere machte und erst zum Leiter der Weimarer Hochschule für Baukunst und Bildende Künste und dann zum DDR-Chefarchitekten wurde, zog Irene Henselmann die acht gemeinsamen Kinder groß und zeichnete im Architekturbüro ihres Mannes. Daneben schrieb sie Architekturbücher. Als ihr Mann 1994 starb, blieb sie allein in der großen gemeinsamen Wohnung in der Wallstraße und dachte sich irgendwann „aus alter sozialistischer Gewohnheit“, dass sich das irgendwie nicht gehört, eine Witwe in einer so großen Wohnung. Und als sie hörte, dass in dem Haus, in dem sie 1954–1960 schon einmal gewohnt hatte, eine Wohnung frei wurde, zog sie wieder ein. „Das ist alles, was ich Ihnen zur Stalinallee erzählen kann“, sagt sie schließlich.
Und dann setzt sie noch mal wie zur Bekräftigung nach: „Wissen Sie, so war das eben damals. Da wurde etwas von der Partei beschlossen und dann musste Hermann das eben so bauen. Ja und da hat er sich natürlich gedacht: Gut, so was kann ich natürlich auch. Im Geheimen hat er dann gesagt: Also wenn ihr Scheiße von mir wollt, das kann ich besser als die anderen.“ Draußen vor dem Fenster ziehen die ersten Nachtwolken dunkle Schlieren über den Himmel. Die DDR gibt es seit fast fünfzehn Jahren nicht mehr und in den einstigen Wohnungen der Arbeiterpaläste wohnen jetzt junge Menschen, die nichts mehr vom Sozialismus wissen und die Wohnungen einfach schön finden. Dann sagt sie noch. „Aber er hat es ja auch gut gemacht.“
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