: Schellen, Feigen, Pfeifen
Auf Maul, Ohr und Backe: Zum Comeback des schlagenden Arguments in der Politik
Zwei Ohrfeigen gegen deutsche Spitzenpolitiker binnen weniger Tage, das lässt aufhorchen. Lange Zeit galt die schwungvolle Handbewegung mit der etwas affektierten Pointe als verschollen. Aus dem Tagesgeschäft war sie so gut wie verschwunden, auf der Unesco-Liste der bedrohten Arten stand sie ganz oben. Plötzlich ist sie wieder da, und nicht nur Bundeskanzler Gerhard Schröder und FDP-Chef Guido Westerwelle schienen überrascht von diesem unerwarteten Comeback der Ohrfeige, sondern die ganze Nation wirkt wie elektrisiert und versucht seitdem zu ergründen, was es damit auf sich haben könnte.
Was bedeutet die Rückkehr der Ohrfeige? Sie kommt ja nicht aus dem Nichts, sie schwebt ja nicht aus dem beziehungs- und bedeutungslosen Off auf die Wange des Empfängers nieder, nein, eine Ohrfeige hat immer eine Vorgeschichte. Und man muss sich nur wenig umsehen, um zu registrieren, dass ein ganzes Knäuel von Entwicklungen und Anbahnungen, teils oberirdisch, teils subkutan, die Renaissance der Ohrfeige ermöglicht hat.
Als Erstes zu nennen wäre da die „neue Armut“. Frühere Protestformen kamen nicht ohne aufwendige Logistik und materielle Grundvoraussetzungen aus, seien es Sprengsätze, Wohnungen, Pässe oder auch nur Eier und Tomaten. Das alles kann sich heute niemand mehr leisten, und so kommt die gute alte Ohrfeige, die nichts kostet, deren technische Hilfsmittel man immer bei sich trägt und die ohne Fachwissen verabreicht werden kann, wieder verstärkt in Betracht.
Gut möglich auch, dass wir hier vor den ersten Resultaten von Rechtschreibreform und Pisa-Studie stehen. Die Deutschen wissen immer weniger, wie sie sich artikulieren sollen. Der Mangel an Kenntnissen, der Niedergang der Kultur des stilistisch geschliffenen Arguments sowie unübersehbare mathematische Schwächen beim Zusammenzählen von eins und eins sind das Umfeld, in dem die Ohrfeige als Ultima Ratio des Legasthenikers erscheint.
Selbstverständlich sind die globalen politischen Prozesse nicht außer Acht zu lassen. Wir erleben zurzeit eine Rückkehr archaischer, längst überwunden geglaubter Bräuche: Stammeskriege, ethnische Selektionen, Missachtung von Völkerrechtsnormen und zivilgesellschaftlichen Grundsätzen. Das Schallen der Ohrfeige für den Kanzler wirkt wie ein fernes Echo dieser weltpolitischen Erosionen, und im Kontext des internationalen Gemetzels erscheint sie fast wie ein Versöhnungsangebot, eine menschliche Geste, eine Handreichung eben.
Nicht vergessen werden sollte bei alldem die ästhetische Dimension der Ohrfeige, die weitgehend unerforscht ist. Ohrfeige ist nicht gleich Ohrfeige, schon die Vielzahl der Synonyme zeigt die Vielfalt ihrer Gestaltungsformen. Es gibt die weit ausholende, mit Ankündigung verabreichte theatralische Ohrfeige, bei der alles auf Eleganz und Effekt ankommt. Es gibt den fast zärtlichen, nur pro forma erteilten Backenstreich. Es gibt die auf Augenhöhe und ausdrückliches Verlangen applizierte Backpfeife in der rotlichtilluminierten Streitkultur. Es gibt die gemeine, ansatzlose Maulschelle. Und es gibt nicht zuletzt den therapeutischen Klaps, worum Menschen ersuchen, die sichergehen wollen, dass sie keinen Halluzinationen erliegen und nicht als Komparse in der Fata Morgana des Daseins agieren. Der Klaps für unsere Spitzenpolitiker könnte so als dringende Aufforderung an sie gelesen werden, endlich aus ihrer Traumwelt zu erwachen und sich den Realitäten des Lebens zu stellen.
Ohne Frage ist die Ohrfeige rechtlich, ethisch und auch haptisch prekär. Wie schlecht es um die christlichen Wurzeln unserer Kultur steht, lässt sich daran ermessen, dass weder der Kanzler noch Westerwelle die andere Wange hingehalten haben. Vorbild Jesus? Fehlanzeige!
Es ist gar nicht so lange her, da waren die meisten aktiven Politiker mit dichten Vollbärten ausgestattet. Man weiß jetzt, warum. Unsere Politiker jedoch haben diese natürlich nachwachsende Schutzmatte aus Modegründen vernachlässigt. Wolfgang Thierse wäre in diesem Zusammenhang gut beraten, seinen in der letzten Zeit doch ziemlich abgeholzt wirkenden Bart wieder aufzuforsten. RAYK WIELAND
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