: Die Pille fürs Vergessen
Der französische Psychiater Guillaume Vaiva von der Universität Lille hat es sich zum Ziel gesetzt, Traumapatienten zu helfen, deren Leben aufgrund von ständig wiederkehrenden Erinnerungen an ein schreckliches Erlebnis zerstört ist
VON CLAUDIA BORCHARD-TUCH
„Es ist mehr als nur eine Erinnerung; diese Menschen durchleben die furchtbaren Vorgänge immer wieder“, erklärt der Psychiater Guillaume Vaiva von der Universität Lille in Frankreich. Man geht davon aus, dass bei dem Erlebten Teile des Gehirns so stark aktiviert wurden, dass die Erinnerungen fortan zwanghaft immer wieder abgespielt werden. Gleichzeitig reagiert der Körper wie im Moment des Erlebnisses: Das Herz jagt, die Atmung ist beschleunigt und Schweiß bricht aus.
In einer Schrecksekunde und kurze Zeit später ist dies eine normale Reaktion. Denn alle Menschen, die es mit der Angst zu tun bekommen, setzen bestimmte Hormone wie Adrenalin oder Noradrenalin frei. Diese Hormone bereiten den Körper auf das Flüchten oder Standhalten vor – indem sie beispielsweise das Herz höher schlagen oder die Lungen schneller atmen lassen. Der hormonelle Fluss verstärkt auch die Fähigkeit des Gehirns, sich zu erinnern. Je länger er anhält, desto heftiger und beständiger sind die Erinnerungen.
Normalerweise lassen diese Stressreaktionen nach Minuten bis Stunden nach. Bei manchen Menschen hält die hormonelle Antwort jedoch tage- oder sogar wochenlang an. Diese Leute sind gefährdet, eine PTSD (post-traumatic stress disorder) zu entwickeln. Bei dieser Erkrankung empfindet der Betroffene immer wieder Gefühle des Bedrohtwerdens und der Angst – auch noch Jahre oder sogar Jahrzehnte nach dem Erlebnis. Die Patienten leiden unter Schlaflosigkeit, Konzentrationsstörungen und hartnäckigem Wiederaufleben des traumatischen Ereignisses, und sie reagieren mit panischer Angst, wenn sie mit Andenken des Erlebnisses konfrontiert werden.
„Aber nicht alle Leute, die ein schreckliches Erlebnis hatten, werden krank“, stellt Michael Anderson von der Universität Oregon fest. Denn vielen Menschen gelänge es, ihre Erinnerungen zu unterdrücken – möglicherweise, indem sie den Fluss der Stresshormone, der nach dem Erlebnis einsetzt, in den Griff bekommen.
Vaiva will dies medikamentös verwirklichen. Er und sein Team arbeiten mit den Notaufnahmen von Krankenhäusern zusammen. Patienten, die Traumatisches wie Gewalt oder einen Unfall erfahren mussten, erhalten innerhalb von 24 Stunden das Arzneimittel Propanolol.
Propanolol gehört zu einer Klasse von Medikamenten, die als Gegenspieler von Adrenalin und Noradrenalin bekannt sind. Es schwächt viele Symptome einer Angstreaktion ab, wie zum Beispiel Zittern, Schwitzen und Herzklopfen. Propanolol mindert aber auch die Gefühle, die hervorgerufen werden, wenn sich ein Mensch an das schreckliche Erlebnis erinnert – das emotionale Gedächtnis.
Bisher ist Vaivas Propanolol-Therapie erfolgreich gewesen: Zwei Monate nach dem Ereignis entwickelten nur halb so viele der mit Propanolol behandelten Patienten Symptome einer PTSD. „Durch die Gabe von Propanolol kann offenbar einer krankhaften Übererregung vorgebeugt werden“, erklärt Vaiva. Das führe aber nicht zu einer völligen Veränderung der Erinnerung an das traumatische Erlebnis. Es mildere lediglich die emotionale Last der Erinnerung.
Damit widerspricht er Kritikern seiner Studie. Denn längst hat um Vaivas Propanolol-Therapie eine bioethische Diskussion begonnen. Kern der Debatte ist die Frage nach dem Missbrauch. Der Tübinger Theologie Dietmar Mieth, Mitglied der Enquetekommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ des Bundestags, warnt vor großen Risiken: „Es gibt auch die emotionale Belastung von Tätern, und genau da wäre der Raum des Missbrauches“, gibt Mieth zu bedenken. So würden nirgends so viele Traumata produziert wie im Krieg. Und da traumatisierte Soldaten oft nicht mehr einsetzbar seien, dürften die Befehlshaber großes Interesse daran haben, sie kampftauglich zu halten.
Auch traumatisierte Soldaten seien kranke Menschen, hält Vaiva dagegen, und als Arzt müsse man sich um kranke Menschen kümmern. Und außerdem verwandle seine Therapie Menschen nicht in Wesen, die keine unangenehmen Erinnerungen mehr kennen, jeden Missbrauch akzeptieren und das Menschliche aus dem kollektiven Gedächtnis entleeren würden. „Wir kontrollieren nur den emotionalen Anteil des Gedächtnisses, der die Leiden der Opfer hervorbringt.“ Er weist Befürchtungen zurück, es solle eine Gesellschaft entstehen, welche Erinnerungen an grausame Geschehnisse gemeinsam löscht. Auch wenn es gelänge, den mit einem Erlebnis verbundenen Schmerz zu lindern, würden schreckliche Erinnerungen einem kollektiven Gedächtnis immer erhalten bleiben.
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