: Offene Debatte über Stalinismus gefordert
■ UdSSR–Historiker verlangt direkte Auseinandersetzung mit Stalin–Ära / Erstmals Pressekritik am Militär / taz–Interview mit dem Journalisten Gregorij Zubkow
Von Erich Rathfelder
Berlin (taz) - „Ich bin sehr traurig darüber, daß es früher nicht möglich war, zu schreiben, was und wie wir wollten“, bekannte der populäre sowjetische Fernsehjournalist Greorgij Zubkov in einem Interview mit der taz. Die bisher unbekannte Vielfalt in den sowjetischen Medien wurde am Wochenende erneut unter Beweis gestellt. Die Kritik machte erstmals vor dem Militär nicht mehr halt. In der Armee treffe man „bei weitem nicht die besten Vertreter des Volkes“, hieß es in der Prawda vom Samstag. Die Parteizeitung berichtete über die korrupten Praktiken eines jetzt abgesetzten Generals in Kalinin (Königsberg), der Soldaten zum eigenen Nutzen zur Arbeit in Fabriken geschickt hatte. In einem Interview mit der Sowjetskaja Kultura erklärte der Leiter des sowjetischen Instituts für Geschichte, Jurij Afanassjew, die Neuerungen in der Presse für noch lange nicht ausreichend. „Die Lehren von Marx und Lenin sind zu unveränderlichen Wahrheiten“ hochstilisiert worden, und im Fernsehen sei Stalin noch immer mit dem „Nimbus der Weisheit und Macht“ umgeben, kritisierte er. Seiner eigenen Zunft hielt Afanassjew vor, die „massiven Repressionen, die in den dreißiger Jahren während der Herrschaft Stalins gegen aufrechte sowjetische Bürger verübt wurden“, einfach als „Irrtümer“ oder „Unzulänglichkeiten“ abzutun. Es sei höchste Zeit, den Stalinismus einer genauen Prüfung zu unterziehen. Die Reden und Artikel Stalins dürften nicht in „Vergessenheit geraten“, sondern müßten den sowjetischen Schülern zur kritischen Auseinandersetzung zugänglich sein. Fortsetzung auf Seite 6 Kommentar auf Seite 4 Interview mit G. Zubkov auf Seite 7 BERUFSPERSPEKTIVE D e r Z e n s o r s t r e i c h t s e i n e n G a r t e n z a u n . D a b e i s o l l t e e r b l e i b e n . MICHAEL AUGUSTIN Der Dogmatismus der Schulbücher, „in denen die Klassiker immer recht und deren Gegner immer unrecht haben“, hätte „jeden Fortschritt im Denken“ verhindert. Die Ausbildung an den Schulen und Hochschulen ist seit Samstag kein Tabuthema mehr. Die amtliche Nachrichtenagentur TASS veröffentlichte einen Reformentwurf des ZK der KPdSU, worin die Wahl von Verwaltungsfunktionären und von Lehrern unter mehreren Bewerbern an den 896 Universitäten und den Tausenden von polytechnischen Schulen gefordert wird. Schüler und Studenten sollen verstärkt mit moderner Technik und elektronischer Datenverarbeitung vertraut gemacht und stärker in die wissenschaftliche Forschung einbezogen werden. Am Sonntag wurde im sowjetischen Fernsehen ein Film über eine Gruppe jüdischer „Refusniks“ gezeigt. Bei dem Dokument handelt es sich um eine Sendung, die im vergangenen Februar von einem US–Fernsehteam in Moskau gedreht wurde. Darin sind jüdische Ausreisewillige zu sehen, die dem amerikanischen Journalisten Phil Donahue mit Namensnennung erklären, warum sie nicht in einem Film auftreten wollten, der in Koproduktion mit dem sowjetischen Fernsehen gedreht wurde. Sie fürchteten damals, als Drogensüchtige und Terroristen dargestellt zu werden. Daß diese Diskussion nun im sowjetischen Fernsehen ausgestrahlt wurde, hat nicht nur in der jüdischen Dissidentenszene für Aufsehen gesorgt. Fünf im Februar freigelassene politische Häftlinge äußerten sich auf einer Pressekonferenz in Moskau vorsichtig optimistisch über die Veränderungen in der UdSSR. Einer der Freigelassenen, der Literaturkritiker Grigorjanz, wies allerdings darauf hin, daß es noch immer mehr als 1.000 politische Gefangene gebe, die in Gefängnissen, Lagern und in psychiatrischen Kliniken festgehalten würden.
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