: Das Dach der Welt wackelt
■ Neue Auseinandersetzungen am Vorabend des 37. Jahrestages des chinesischen Einmarsches in Tibet
Seit Tagen schon herrscht in Tibet, dem Dach der Welt, Aufruhr. Initiiert von buddhistischen Mönchen demonstrieren Scharen von Tibetanern gegen die chinesische Besetzung des Landes, die sich heute zum 37. Mal jährt. Drahtzieher des Aufstandes ist nach chinesischem Urteil der im Exil lebende Dalai Lama, doch der Sprecher des Gottkönigs in Europa widerspricht dieser Auffassung und kontert mit Vorwürfen an die Adresse Pekings.
Während die Einzelheiten der Entstehung der jüngsten Protestwelle in Tibet immer noch ungeklärt sind, weiten sich die Unruhen in der Hauptstadt Lhasa und Umgebung offenbar weiter aus. Nachdem bereits in der vergangenen Woche am Sonntag und Donnerstag Mönche gegen die chinesische Besatzung Tibets protestierten und Polizeiwachen unter dem Ansturm wütender Polizisten in Flammen aufgingen, kam es am gestrigen Dienstag, nur 24 Stunden vor dem 37. Jahrestag der chinesischen Besatzung Tibets, zu neuen Demonstrationen in Lhasa und der zweitgrößten Stadt Xigatse. Nach Berichten von Augenzeugen versammelten sich etwa 100 Menschen vor dem Drepung–Kloster im Zentrum der Hauptstadt und riefen antichinesische Slogans. Als sie anschließend zu den staatlichen Büros der „autonomen Republik Tibet“ marschierten, wurden sie jedoch von einem Armeekonvoi gestoppt. Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten verfrachteten mindestens 60 Tibetaner auf Armeelastwagen und versuchten, inzwischen herbeigeeilte Zuschauer zu vertreiben. In Xigatse, etwa 350 km westlich von Lhasa, sollen zwei Ausländer festgenommen worden sein, als sie Fahnen mit einem Aufruf für die Unabhängigkeit Tibets aus einem Kloster hängten. Seit der Öffnung Tibets für Westreisende vor drei Jahren ist das buddhistische Land zu einem beliebten Hang–out für Rucksackreisende geworden. Wie auch in den vergangenen Tagen kommen die meisten Informationen über die Lage in Lhasa von Reisenden, die sich zufällig am Ort der Proteste aufhielten. Die Kommunikationsverbindungen in die Hauptstadt sind unterbrochen. Die chinesischen Behörden haben inzwischen drakonische Sicherheitsmaßnahmen getroffen, um für die für heute erwarteten weiteren Proteste gerüstet zu sein. Am 7. Oktober jährt sich zum 37. Mal der Tag, an dem chinesische Truppen über den Jangtsefluß nach Tibet eindrangen. Viele Tibetaner wollen nach eigenen Angaben an diesem Tag friedlich demonstrieren. „Sobald die Chinesen die Kontrolle ein wenig lockern, sind wir wieder auf der Straße“, erklärte auch ein alter Priester gegenüber dem Korrespondenten des britischen Guardian. In den Straßen von Lhasa patrouilliert die Polizei, und auch die beiden Klöster Ganden und Sera sind abgeriegelt worden. Das Kloster Ganden gilt als Dreh– und Angelpunkt der Proteste. Einem Reporter der amerikanischen Nachrichtenagentur ap gelang es trotz der Kontrollen, nach Sera zu gelangen. Er berichtete, mehr als 330 Mönche hätte dort gerade ihre am vorigen Donnerstag erschossenen Mitbrüder betrauert und ihn gebeten, ihre Botschaft zu übermitteln: „Bitte, ihr Westler, helft uns, unabhängig zu werden.“ Die USA haben sich unterdessen eindeutig hinter die Regierung in Peking gestellt und erklärt, Tibet sei eindeutig ein Teil der VR China. Nach offizieller chinesischer Darstellung stehen die Demonstrationen in Verbindung mit den jüngsten Aktivitäten des Dalai Lama. Der im indischen Exil lebende tibetanische Gottkönig hatte sich vor zwei Wochen erneut für die Unabhängigkeit Tibets ausgesprochen. Peking will nach eigenem Bekunden jetzt prüfen, ob die „Demonstranten in Mönchskutten tatsächliche Lama– Mönche“ seien. N.B.
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