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DDR: Einfahren statt ausreisen

■ Am Wochenende wurden in mindestens vier Städten der DDR über 100 Menschen festgenommen / In der Mehrzahl Ausreisewillige / In Ost–Berlin am Sonntag Schikanen beim Kirchgang / Schriftstellern wurde West–Kontakt verboten / Wieder Fürbitt–Gottesdienste

Aus Berlin Stefan Schönert

Schon wieder im Knast zu Ehren von Rosa Luxemburg. Vor den offiziellen Feiern zum 118. Geburtstag Rosas, kam es am Wochenende in der DDR zu einer neuen, großen Verhaftungswelle. Über die Anzahl der Festnahmen, Verhöre und Inhaftierungen lagen am Sonntag zunächst keine genauen Angaben vor. Der Generalsuperintendent der protestantischen Kirche Berlins, Günter Krusche, mochte die über dpa verbreitete Zahl von 200 verhafteten Personen in Ost–Berlin, Wismar, Dresden und dem Eichsfeld gegenüber der taz nicht bestätigen. „Wir haben da im Moment keinen Überblick, es können durchaus mehr oder weniger sein.“ Krusche erklärte im Gespräch mit der taz weiter, daß am Sonntag mehrere durch die Polizei festgesetzte Personen wieder freigelassen worden seien. Dem Kontaktbüro der Ostberliner Kirche wurden bis Samstag allein im Bereich Berlin–Brandenburg 35 Festnahmen gemeldet. Die Meldungen über 200 Verhaftete wies die DDR–NachrichtenagenturADN, als „Lügen und Verleumdungen“ zurück. Gleichzei tig griff ADN „Kirchenkreise“ an, die als „Falschmeldungsfabrikanten“ daran interessiert seien, „bestimmte Leute zu provokativen Handlungen zu bewegen.“ Ein Großaufgebot von zivilen und uniformierten DDR–Sicherheitskräften behinderte gestern vormittag in Ost–Berlin Besucher eines Gottesdienstes in der Sophienkirche massiv durch „Fahndungs– und Personenkontrollen“ auf den Zugangsstraßen. Der zuständige Gemeindepfarrer, Martin Michael Passauer, verurteilte das Verhalten der Polizei in seiner Predigt. Es solle wieder Vernunft einkehren bei denen, die regieren, forderte der Protestant. An dem Gottesdienst nahmen rund 100 Ausreisewillige teil. Nach Verlassen der Kirche wurde ein Mann offenbar festgenommen, nachdem er sich geweigert hatte, seinen Ausweis zu zeigen. Fortsetzung Seite 2 Kommentar Seite 4 Nach Angaben von Kirchenkreisen sind von der Verhaftungswelle vor allem Ausreisewillige betroffen. Vergangene Woche kursierten in Ost–Berlin Gerüchte, nach denen einige Ausreisewillige auf der offiziellen Geburtstagsfeier zum Gedenken an Rosa Luxemburg am Samstag auf ihre Forderungen aufmerksam machen wollten. Ende letzter Woche hatte die Staatssicherheit die DDR–Schriftsteller Lutz Rathenow und Uwe Kolbe sowie weiteren Prominenten der Bürgerrechtsbewegung vorgeladen und davor gewarnt, sich an „ungesetzlichen Aktionen“ zu beteiligen oder Kontakt mit Westmedien aufzunehmen. Am Donnerstag abend bereits hatte das Ost–Berliner Stadtbezirksgericht fünf Künstler zu Geldstrafen zwischen 2.000 und 3.000 Mark verurteilt, weil sie Anfang Februar in einer Erklärung Freizügigkeit im Reiseverkehr und die DDR–Abschiebepraxis verurteilt hatten. Am Freitag wurde der 32jährige Fernmeldemechaniker Peter Scharf von einem Ost–Berliner Gericht zu einer 10monatigen Haftstrafe verur teilt. Scharf, Autor der Ost–Berliner Untergrundzeitung „Leichenverbrenner“, hatte mit dem Herausgeber, Andre Theile, Flugblätter auf dem Hof der Zionskirche verteilt, in dem die „völlige Freiheit der Presse“ verlangt und die DDR–Bürger dazu aufgerufen wurden, alle anderen DDR–Zeitungen abzubestellen. Wegen der neuen Verhaftungswelle soll heute abend in der Ost– Berliner Gethsemane–Kirche ein Fürbitt–Gottesdienst stattfinden. Generalsuperintendent Krusche schloß nicht aus, daß weitere Veranstaltungen solcher Art im Lauf der Woche folgen können. Im Hinblick auf das Verhältnis Staat und Kirche sagte Krusche, daß die Polizei solange keinen Anlaß habe, ihr Verhalten zu ändern, als es keine neuen gesetzlichen Bestimmungen gebe. Es sei kein Geheimnis, daß es in puncto Menschenrechtsbewegung in der DDR–Führung unterschiedliche Auffassungen und Herangehensweisen gebe. Noch am Donnerstag der letzten Woche war die evangelische Kirchenleitung der DDR vom Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker zum Gespräch empfangen worden, bei dem unter anderem die Ausreisebestimmungen behandelt worden waren. Wie erst jetzt bekannt wurde, hat eine Hundertschaft der Volks polizei in der vorletzten Woche eine Gruppe von FDJ–Funktionären in Wismar verhaftet, die eine Gruppe von Teilnehmern des internationalen politischen Liederfestivals in Ost–Berlin begleitet hatten. Die jungen Leute hatten zum Geburtstag des Tourneeleiters 41 Kerzen auf dem Marktplatz Wismars entzündet, um zu gratulieren. Die Polizei mißdeutete das private Fest als Aktion von Bürgerrechtlern und sperrte die Teilnehmer ein - ins Wismarer Fußballstadion. Nach einigen Stunden entschuldigte sich ein Offizier der Volkspolizei für das „Versehen“ und ließ die Jugendlichen wieder frei - die ausländischen Gäste hatten inzwischen lautstark protestiert und nach ihren Botschaftern verlangt. Die SPD–Fraktion im Bundestag hat die Verschärfung der innenpolitischen Situation in der DDR „mit Sorge“ zur Kenntnis genommen. Der deutschlandpolitische Sprecher der Sozialdemokraten, Hans Büchler, forderte gestern „mehr Rechtssicherheit“ in der DDR für Ausreisewillige. Der deutschlandpolitische Sprecher der CDU/CSU, Eduard Lintner, sprach von einer „schlimmen Entwicklung“ und forderte Rechtsansprüche auf Reisefreiheit für alle DDR–Bürger.

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