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Viele blieben im Schockzustand einfach stehen

■ Während der Beerdigung der drei IRA–Aktivisten, die vor zwölf Tagen auf Gibraltar erschossen wurden, warf ein Mann Handgranaten in die Menge / Drei Menschen starben und über 70 wurden verletzt / Attentäter vermutlich kein Einzelgänger

Aus Belfast Ralf Sotscheck

Nachdem die ersten beiden Granaten explodiert waren, herrschte sekundenlang völlige Verwirrung. Hatte die „Irisch–Republikanische Armee“ (IRA) trotz gegenteiliger Ankündigung Salutschüsse über den Särgen der drei IRA–Aktivisten abgefeuert, die vor zwölf Tagen in Gibraltar von der britischen Eliteeinheit SAS ermordet worden waren? Einen Augenblick später fielen mehrere Pistolenschüsse. Ein Jugendlicher, der fünf Meter links von mir stand, brach mit einem Bauchschuß zusammen. Dann explodierten keine zwanzig Meter von uns entfernt weitere Granaten. Hochgeschleuderte Steine und Granatsplitter flogen durch die Luft und verletzten viele der Umstehenden. Kaum jemand behielt den Überblick in der allgemeinen Panik. Sinn Fein–Präsident Gerry Adams, der gerade die Grabrede für die IRA–Leute halten wollte, forderte die Trauergäste über Lautsprecher auf, sich auf den Boden zu legen. Ein kanadisches Fernsehteam warf Kamera, Mikrofone und Tonbandgerät in hohem Bogen in einen Graben und floh. Wie die meisten anderen suchte ich hinter einem Grabstein Deckung, während einige im Schockzustand einfach stehenblieben und schrien. Nach zwei Minuten fielen weitere Pistolenschüsse, dann wieder Granat–Explosionen. Ein zehnjähriger Junge wurde vor unseren Augen von einer Kugel in den Rücken getroffen und lebensgefährlich verletzt. Inzwischen konnten wir den Attentäter erkennen. Ein etwa 30jähriger Mann mit einem Schnauzbart und einer grauen Mütze hatte sich gegen Ende der Begräbniszeremonie unter die Trauergäste gemischt. Als der Sarg von Sean Savage in die Erde gelassen wurde, warf der Mann eine Handgranate in Rich tung der Grabstelle. Offensichtlich wollte er damit die gesamte Sinn Fein–Führung treffen, die um die Särge versammelt war. Auch jetzt zeigte er bei seinem Rückzug keine Eile, blieb immer wieder stehen, um weitere Schüsse abzufeuern und Granaten zu werfen. Dabei wurde er von einem zweiten Mann unterstützt, der mit einem Gewehr bewaffnet auf der Wiese wartete. Mittlerweile hatten ungefähr 150 Menschen die Verfolgung des Attentäters aufgenommen, bei denen die Wut über die Angst gesiegt hatte. Sie mußten immer wieder in Deckung gehen, weil der Attentäter mit der Kälte eines Profis nachlud und auf seine Verfolger schoß. Zeugen gaben an, daß der zweite Mann in einem grauen Lieferwagen entkommen sei, der neben der Autobahn geparkt war. Als der Attentäter schließlich auf der Autobahn gestellt wurde, wo er versucht hatte, ein Auto zu entführen, warf er eine letzte Handgranate zwischen seine Verfolger. Dann wurde er überwältigt, zusammengeschlagen und in ein Auto gestoßen. Erst jetzt erschien die Polizei (RUC) auf der Szene und verhaftete den Mann. Damit rettete sie ihm zweifellos das Leben. Auf dem Friedhof versuchte man inzwischen, für den Abtransport der Verletzten zu sorgen. Dazu wurden die Trauerwagen und Taxis benutzt, bis die ersten Krankenwagen eintrafen. Viele Menschen liefen verzweifelt herum und suchten ihre Angehörigen und Freunde. Die Bilanz des Mordanschlags: drei Tote, vier Schwerverletzte und 70 leichter Verletzte. Die Hoffnung auf eine friedliche Beerdigung der drei IRA–Mitglieder hatte ein jähes Ende gefunden. Dabei hatte am Morgen nichts auf einen Zwischenfall hingedeutet. Die Armee und die RUC hatten nach tagelangen Verhandlungen und Bitten von Politikern und Bischöfen von ihrer sonst üblichen massiven Präsenz bei IRA–Begräbnissen abgesehen. Zwar wurden sämtliche Straßen, die in das katholische West–Belfast führen, streng kontrolliert, aber im Viertel selbst war kein einziger Soldat oder Polizist zu sehen. Nach der Morgenmesse für die IRA–Aktivisten geleiteten 15.000 Menschen, darunter viele Kinder und alte Leute, die Särge von Mairead Farrell, Sean Savage und Dan McCann zum Milltown–Friedhof, in dessen hinterem Teil traditionell die Belfaster IRA–Toten beerdigt werden. Der katholische Pfarrer Toner hatte während der Gedenkmesse noch einmal ausgesprochen, wovon die überwältigende Mehrheit der IrInnen überzeugt ist: „Die SAS–Aktion auf Gibraltar war Mord.“ Gestern wurde die Identität des Attentäters bekanntgegeben. Sein Name ist Michael Stone, ein Protestant aus Ost–Belfast. Die Poli zei hält den Anschlag für eine Aktion eines Einzelgängers, der in seiner Eitelkeit verletzt war, da sich die extreme protestantische „Ulster Defence Association“ (UDA) angeblich geweigert hat, ihn als Mitglied aufzunehmen. Doch die Tatsachen sprechen gegen diese Theorie: Stone war kein Einzeltäter, er wurde von mindestens einem weiteren Mann unterstützt, der inzwischen verhaftet wurde. Gerry Adams beschuldigte die Polizei der Kollaboration mit dem Todeskommando. Er glaubt, die Attentäter seien von der Polizei informiert worden, daß sie nicht mit Kontrollen zu rechnen hätten. Der Anschlag war von einem Hubschrauber der britischen Armee beobachtet worden, der während der gesamten Beerdigung über dem Friedhof kreiste. Die Polizei gab später bekannt, daß es sich bei dem grauen Lieferwagen um eine Polizeistreife gehandelt habe. Politiker der nordirischen Sozialdemokraten beschuldigten die immer noch legale UDA und ihren illegalen militärischen Arm „Ulster Freedom Fighters (UFF)“ des Attentats, obwohl beide Organisationen das strikt von sich wiesen. Inzwischen hat jedoch ein Anrufer beim BBC–Büro in Belfast für die loyalistische Gruppe „Protestant Action Group“ (PAG) die Verantwortung für den Anschlag übernommen. Trotz der Appelle von Gerry Adams und anderen Politikern an die katholische Bevölkerungsminderheit Nordirlands, nach dem Anschlag auf das Begräbnis Ruhe zu bewahren, kam es in der Nacht zu Donnerstag in den Städten Nordirlands zu schweren Unruhen. Zahlreiche Fahrzeuge gingen in Flammen auf und Jugendliche griffen die „Sicherheitskräfte“ mit Steinen und Benzinbomben an. Belfast gleicht einem Pulverfaß, das vielleicht schon bei den Beerdigungen der Mord–Opfer am Wochenende explodieren kann.

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