: Schweinskram soll in Hessen ein anderer werden
■ Französischer Karikaturist Jean-Marc Reiser erregt die Gemüter / Jugendschützer aktiviert Bundesprüfstelle
Bonn (taz) - Leider ist der französische Zeichner Jean-Marc Reiser zu früh gestorben, um Herrn Weber aus Kassel noch kennenzulernen. Der amtliche Jugendschützer aus dem Hessischen hätte ein glänzendes Objekt für den Karikaturisten abgegeben: Verschwiemelte Lüsternheit unter spießbürgerlichen Tabus, wie sie Reiser in etlichen Bildbänden mit gnadenloser Feder aufgespießt hat. Doch Satire ist bekanntlich nicht jedermanns Sache, und die von Herrn Weber schon gar nicht. Wäre Herr Weber ein Jedermann, hätte er Reisers Bände „Unter Frauen“ und „Phantasien“ n der Kasseler Buchhandlung mit einem angeekelten „Bäh!“ beseite gelegt. Da Herr Weber aber von Amts wegen Sitte und Moral der deutschen Jugend schützt, mußte sich gestern auf Antrag des Kasseler Jugendamts die „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften“ in Reisers Bildbände vertiefen. Wegen „primitivster Sexualsprache“, Geschlechtsverkehr mit Schweinen und Hunden und sonstiger „verwerflicher“ Darstellungen seien die Comics „geeignet, Kinder und Jugendliche schwer sittlich zu gefährden und sozial-ethisch zu desorientieren“, meint das Jugendamt. Wenn ein Wildschwein, im Hintergrund ein rauchendes Autowrack, mit erigiertem Pimmel und der Sprechblase „Du hast meine Frau getötet, du wirst sie ersetzen!“ über den Hintern des Autofahrers herfällt, ist es Herrn Weber „schwer möglich, sofort die Satire zu erkennen“, bekannte er gestern in der Verhandlung der Prüfstelle. Und weil „wir unterstellen, daß der Durchschnittsmensch oder das Kind auch Schwierigkeiten hat, das zu verstehen“, soll Reiser auf den Index. Nicht zuletzt zum Schutz der Frauen: Die Tätowierung „Alles Fotzen außer Mutti“ auf dem Arm eines ungeschlachten Muskelprotzes sei „eine schlimme Form von Frauendiskriminierung“.
„Lassen Sie die Sache eine Kasseler Provinzposse bleiben!“ appellierte Juliane Huth, Rechtsanwältin des Kieler „Semmel -Verlach“, der Reiser verlegt, gestern an die Bundesprüfstelle. Doch die versammelten VertreterInnen von Verbänden, Kirchen, Lehrern und sonstigen Moralinstanzen nahmen die Posse bitterernst.Mit einem jugendpsychologischen Gutachten soll nun geprüft werden, ob Reisers Satire schlimmer Porno ist (was nicht einmal Alice Schwarzer meint). Die Verhandlung ist auf Dezember vertagt. Wenn der in Frankreich allenthalben geschätzte Reiser auf den deutschen Index käme, würde sich die Bundesrepublik als „spießig, humorlos und kunstfeindlich“ entlarven, meint die Rechtsanwältin Huth. Um ihren Ruf fürchteten auch einige MitarbeiterInnen des Kasseler Jugendamts, die sich in einem Schreiben von dem Anti-Reiser-Antrag distanzieren: Eine „neue Zensurwelle“ auf Basis „des gesunden Volksempfindens“ sei zu befürchten. In vier Orten wurden Reiser-Bände bisher beschlagnahmt. In Bonner Buchhandlungen sind seine „Phantasien“ hingegen schon ausverkauft. „Ich kann Ihnen nur noch den Schweinepriester anbieten“, meinte eine Verkäuferin und erschrak: „Darf der überhaupt noch ins Fenster? Ich glaube, der ist auch schon eingezogen.“ Nein, soweit haben es die Schweinepriester noch nicht getrieben.
Charlotte Wiedemann
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