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„Strahlenschutz ist Opium fürs Volk“

Anhörung der Grünen zur Strahlenschutz-Novelle / Kritiker der Töpfer-Vorlage bemängeln, daß Gefahren der Niedrigstrahlung unberücksichtigt bleiben  ■  Aus Bonn Charlotte Wiedemann

Man braucht schon eine Machete oder - um im Metier zu bleiben - Röntgenaugen, um sich im Jahre 3 nach Tschernobyl im Dschungel der Strahlenschutz-Paragraphen zurechtzufinden. Daß die berühmt-berüchtigte Molke heute eigentlich wieder auf den Markt kommen könnte, weil es immer noch keine Grenzwerte für im Land produzierte und verkaufte Lebensmittel gibt, weiß kaum jemand. Dem Bundesumweltministerium kann diese Unübersichtlichkeit recht sein: Nur Experten nahmen bisher davon Kenntnis, daß ein wichtiges Stück Atomstaat gerade in neue Paragraphen gegossen wird - die Novellierung der Strahlenschutz -Verordnung. Sie legt fest, was den Beschäftigten in radioaktiven Sektoren und der Normalbevölkerung an Strahlenbelastung zugemutet werden darf - Grenzwerte, die nicht nur für den Gesundheitsschutz des einzelnen Bedeutung haben, sondern auch bei Genehmigungsverfahren für Atomkraftwerke und die Wiederaufarbeitungsanlage eine wichtige Rolle spielen.

Ein halbes Jahr, nachdem Töpfer seine Novelle, die dieses Jahr nicht mehr verabschiedet werden soll, erstmals der Öffentlichkeit vorstellte, gibt es nun bei SPD, Grünen und bei Strahlenmedizinern bis ins traditionelle Lager hinein eine weitgehend einige Front der Kritiker. Der Hauptvorwurf: Töpfer ignoriert neuere Erkenntnisse über die Gefahren der Niedrigstrahlung, wie sie aus der Untersuchung der Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki gewonnen wurden.

In der internationalen Strahlenwissenschaft ist es mittlerweile Allgemeingut, daß diese Risiken bisher unterschätzt wurden. Doch Töpfer und die bundesdeutsche Strahlenschutzkommission setzen darauf, daß diese Erkenntnis erst mit zeitlicher Verzögerung - vermutlich 1990 - von der internationalen Strahlenschutzkommission in neue Empfehlungen zur Reduzierung der Grenzwerte gegossen wird.

Auf einer Anhörung der Grünen im Bundestag am Donnerstag dieser Woche forderten Professor Köhnlein, Strahlenbiologe an der Universität Münster, und Professor Kuni, Strahlenmediziner aus Marburg, hingegen erneut eine drastische Senkung der Grenzwerte. Köhnlein: „Das gebietet die wissenschaftliche Erkenntnis, aber in der Gesetzgebung ist das Gegenteil der Fall.“ Durch eine neue Berechnung der Risikofaktoren, wie sie die Novelle vorsieht, würde sogar die legale Belastungsgrenze heraufgesetzt, befürchtet der Berliner Rechtsanwalt Reiner Geulen. Denn für die Krebsanfälligkeit einzelner Organe wird nur die statistische Sterblichkeitsrate als Kriterium angelegt und zudem nicht zwischen geschlechts- und altersbedingter Anfälligkeit unterschieden. Professor Kuni: „Wenn man Brustkrebs, der in der Regel nur Frauen befällt, im statistischen Mittel von Frauen und Männern berechnet, kommt natürlich ein um die Hälfte reduzierter Risikofaktor heraus.“ Derartige Berechnungstricks, da waren sich die Grünen mit den Wissenschaftlern einig, dienen allein „dem Bestandschutz der Atomindustrie“. Weil der Gesundheitsschutz in der Novelle „systematisch vernachlässigt“ werde, hält Geulen Töpfers Paragraphenwerk gar für verfassungswidrig.

Wenn die Grenzwerte, wie von den Wissenschaftlern gefordert, um etwa das Zehnfache gesenkt würden, könnte das drastische Auswirkungen für den Betrieb und die Genehmigung von Atomkraftwerken haben. Professor Köhnlein: „Die Atomkraftwerke müßten abgeschaltet werden, die WAA könnte nicht gebaut werden.“ Dennoch warnt Mario Schmidt vom Heidelberger „Institut für Energie- und Umweltforschung“ vor Illusionen: „Über die Grenzwerte wird man nicht den Ausstieg aus der Kernenergie proben können.“

Die Grünen fordern von Töpfer nun, seine Novelle zurückzuziehen, die Strahlenschutzkommission aufzulösen und die Beratung einem von Regierung und Atomindustrie unabhängigen Gremium mit Sachverständigen und Betroffenen zu übertragen.

Die Bonner SPD-Fraktion will aber ebenfalls eine Neubesetzung der Strahlenschutzkommission und besseren Schutz für die beruflich Strahlenbelasteten. Im Bericht der von Volker Hauff geleiteten Kommission „Energie- und Umweltpolitik“ ist nachzulesen, daß sich eine Erkenntnis auch bei den Sozialdemokraten durchgesetzt hat: es gibt keine Schwelle, unterhalb derer radioaktive Strahlung unschädlich ist. Peter Kafka vom Garchinger Max-Planck -Institut drückte es beim Grünen-Hearing drastischer aus: „Im Strahlenschutz ist die Wissenschaft Opium fürs Volk und auch bei dieser Droge gibt es eine kriminelle Szene.“

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