: Museum der klinischen Fakten
■ Vor hundert Jahren eroberte der „Napoleon der Neurosen“, Jean Martin Charcot, das Feld der Hysterie. Sein mit Paul Richer verfaßtes Werk „Die Besessenen in der Kunst“ ist jetzt auf Deutsch erschienen
Rose-Maria Gropp
Hysterie ist der Name einer Krankheit, die als Chimäre des weiblichen Geschlechtscharakters seit fast vier Jahrtausenden in der Medizingeschichte nistet: vom mythischen Bild der hungrigen oder durch den Körper wandernden Gebärmutter (die griechisch hystera heißt) und den Anweisungen zu deren Befriedung schlägt sie samt ihrer mannigfachen Ätiologien und Therapien einen Bogen durch die Zeitläufte. Bis hin zu den jungen und intelligenten Hysterikerinnen aus Josef Breuers und Sigmund Freuds Studien über Hysterie und der heilenden Kraft der „talking cure“ hinein in unsere Gegenwart, die sich damit abmüht, die unüberhörbar in den allgemeinen Sprachgebrauch eingedrungene Rede von der „hysterischen Frau“ anstandshalber wieder zu bändigen.
Nicht erst neuerdings ist die Hysterie in der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen als „enzyklopädisch“ bezeichnet worden. Schon der Arzt Galen von Pergamon bescheinigte im Zweiten Jahrhundert dem Leiden „zwar einen Namen, aber dieser umfaßt verschiedene und eigentlich unzählbare Formen“. So ist es die Hysterie, die es ganz eigentlich schon immer nicht gegeben hat. Und doch - oder gerade - ist zugleich ihrem mit der ambivalenten Ausstrahlung des Faszinosums ausgestatteten Krankheitsbildes in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts eine wahre Hochkonjunktur beschieden. Untrennbar damit verbunden ist die Person des französischen Neurologen und Psychiaters Jean Martin Charcot, der seit 1862 Direktor des Pariser Irrenarsenals und Versorgungshauses für Frauen „Salpetriere“ war. Es ist dieser „Napoleon der Neurosen“, der dem „gesamten und regelmäßigen großen hysterischen Anfall“ ein Schema zu unterlegen suchte. Die in der „Salpetriere“ verwahrten, von ihm als solche klassifizierten Hsterikerinnen wurden im Dienste dieser Systematik schlicht zu Mannequins. Mit ihnen, die er unter Suggestion oder Hypnose setzte, inszenierte er seine Vorführungen, indem er durch Berührung sogenannter hysterogener Zonen den schieren Automatismus des hysterischen Reflexes auslöste - und womöglich auf die gleiche Weise beendete.
Ein berühmt gewordenes Gemälde von Pierre-Andre Brouillet aus dem Jahre 1887 mit dem Titel Le?on clinique du docteur Charcot fängt genau dieses Szenario ein. Jean Martin Charcot ist darauf zu sehen während einer seiner vielbesuchten Vorlesungen, rechts neben ihm, gestützt von seinem Schüler Babinski (welcher seine Lehre übrigens später demontieren wird), eine in Ohnmacht zurückgesunkene Frauengestalt; sie trägt, weiß man, den Beinamen „reine des hysteriques“. Auf dem Bild außerdem links im Hintergrund, im Rücken einer gespannten männlichen Zuhörerschaft, eine Abbildung jenes „arc de cercle“, des im Kreisbogen gebäumten Körpers, Herzstück der hysterischen Krise: Perfekt ist damit der Zirkel geschlossen; denn zweifellos wird die Halbentblößte unter dem Blick des Meisters Charcot der Choreographie des großen hysterischen Anfalls gleich gehorchen.
Im selben Jahr 1887 erscheint Jean Martin Charcots und Paul Richers Werk Les demoniaques dans l'art. Als Die Besessenen in der Kunst liegt es jetzt erstmals in deutscher Sprache vor, versehen mit einem Nachwort von Manfred Schneider. Der berühmte Arzt und sein Musterschüler lassen da die Hysterie ihre Bahn ziehen durch die abendländische Kunst seit dem Mittelalter. Sie erstellen ein einzigartiges Archiv der Hysterie im Dienste ihrer These, daß die Hysterie nicht „jene typische Krankheit unseres Jahrhunderts“ sei, sondern daß vielmehr die „große hysterische Neurose“ eine „Realität“ sei, für die die bildende Kunst über Jahrhunderte beredtes Zeugnis abgelegt habe.
Ist der Blick erst einmal so geschärft, kommt die Mechanik einer groß angelegten Induktion in Gang: Was auf Brouillets Gemälde - schon da im Spiel zwischen bevorstehendem Nachvollzug und zu leistender Vorlage - für eine kunstintereressierte Nachwelt stillgestellt ist, erweist sich nurmehr als Spitze eines Eisberges, vielbändig eingeschrieben seit 1875 in die Medizin- (und Medien-) Geschichte als von Charcot inspirierte und Richer begründete Nouvelle Iconographie photographique de la Salpetriere„.
Genau trifft zunächst der kunsthistorische Begriff der Ikonographie da, wo der kunstsinnige Neuropathologe nach eigener Einschätzung in einem „lebenden pathologischen Museum“ herrscht. Und ein Sigmund Freud spricht noch 1893 in seinem Nachruf auf Charcot vom „Museum von klinischen Fakten“. Dort eben galt es, so wiederum Freud, „die Wildnis von Lähmungen, Zuckungen und Krämpfen“ als regelmäßigen Ablauf zu klassifizieren, das Individuelle des Leidens mithin in eine Systematik zu überführen, oder wie Charcot/Richer es selbst sagen, „dem wüsten Durcheinander und Chaos... eine ganz klare, unumstößliche Regel unterzulegen“.
Schöner freilich ließe sich die „geheime Ordnung“ des faszinierenden Krankheitsbildes nicht in die „dauernde Gültigkeit und Unbestechlichkeit eines wissenschaftlichen Gesetzes“ überführen als durch den Rekurs auf ihre (über)geschichtlichen Ausprägungen, die künstlerische Augenzeugenschaft als genaue Beobachtung von „Natur“ erreicht. Das eben sollen Text und Bildmaterial der Besessenen in der Kunst leisten. Entsprechend müssen sich große Meister, die ihre Optik nicht - gleichsam ante festum - Charcots Blick zu adaptieren gewußt hatten, Scheitern vor dieser Natur bescheinigen lassen: So ein Raffael, dessen Besessener auf seiner berühmten Verklärung von 1520 sich Charcots/Richers intendiertem Panoptikum nicht ohne Abstriche einpassen läßt, was ihm (in Übereinstimmung mit ungenannten Kunstkritikern) den Vorwurf der Ärzte einträgt, exakte Beobachtung für die Konventionen des Idealbildes vernachlässigt zu haben. Dagegen erfährt Peter Paul Rubens viel Zuspruch. Ist doch seine Besessene auf dem in Wien befindlichen Bild Der heilige Ignatius erlöst eine Besessene und weckt ein Kind von den Toten auf mit den „allerbemerkenswertesten Symptomen eines 'großen Anfalls'“ ausgestattet; hat Rubens es doch verstanden, „unser Krankheitsbild“ auf nie erreichte Weise zu begreifen.
Simple retrospektive Kritik an Charcot/Richer ist an sich wohlfeil: Natürlich ging es den Künstlern, die die Exorzismusszenen, die Austreibungen von unreinen Geistern, von Succubi und Incubi schufen, nicht in erster Linie um die Gestaltung der Besessenen, sondern vielmehr um den Akt der wunderbaren Heilung im sakralen Bezug zu den ihn vollbringenden Heiligen. Und fragwürdig darüber hinaus ist das Unterfangen, die dämonischen Besessenen auf den Kunstwerken mit dem Gebaren der HysterikerInnen in der Pariser Irrenanstalt in einem Kanon krankheitsspezifischer Zeichen kurzzuschließen. Charcot und Richer haben mithin ihre Demoniaques und deren Nachfahren für ein Archiv inventarisiert, das sich selbst als historisches Dokument entlarvt. Das wird spätestens augenfällig, wenn die Jahrhundertwende dann die großen Gebärden der Hysterie in den Bereich des Ästhetischen, des Ornaments überführt: Die sich biegenden Frauenkörper der „Salpetriere“, die als „konvulsivische Besessene von heute“ die Klimax des Buches darstellen, haben eine Ahnengalerie in die Vergangenheit hinein eröffnet, die in der Bilderwelt des Fin de Siecle zur exaltiert posierenden, hochsexualisierten Ikone von Weiblichkeit schlechthin erstarren wird.
Genau am Punkt dieser Still-Stellung greift das Nachwort Manfred Schneiders und treibt die Reflexion auf das Phänomen Hysterie weiter: Denn was Charcot/Richer so unermüdlich wie vergeblich in ihrem ikonographischen Unterfangen als „Natur“ der Krankheit zu identifizieren suchten, wird begreiflich als Effekt eines neuen technischen Mediums, der Fotografie. „Wunderschön“ konnte Charcot die Anfälle seiner Patienten finden - bleibt hier allemal festzuhalten, Charcot kannte auch den hysterischen Mann! -, so daß er sich das Mittel der „Instantanphotographie“ herbeiwünschte - und einsetzte. Die Zeichnungen des Arztes Paul Richer, auch in Die Besessenen in der Kunst aufgenommen und in Übersichtstafeln nachgerade an der Grenze zur Vorform des Zeichentricks, mußten als Echtheitsgaranten verblassen vor den Möglichkeiten der Kurzbelichtungsserienkamera von Richers Freund Albert Londe: Charcot verwechselte letztlich tragisch Ursache und Wirkung, verkannte, so Schneider, daß ein neues Wissen (über die Hysterie) einer Reproduktionstechnik entsprungen war, daß es diese an den Patienten zu ratifizieren galt.
Solcherart multiplizierbar gemacht erlischt die „hysterische Aura“, von der Charcot selbst fast beglückt spricht, vor der Entauratisierung der prinzipiell unendlichen Reproduktion. Es setzt jene Streuung ein, die Charcots lebenslangen Kampf für die Wahrhaftigkeit seiner HysterikerInnen endlich desavouieren wird. Gar nicht mehr die (bis heute verhandelte) Frage nach der Simulation seitens der Hysterischen steht so im Vordergrund. Es ist vielmehr die Feststellung, daß mit dem Auftauchen des neuen Mediums die „Echtheit“ der Symptome unter dem Blick des Meisters und des Kameraobjektivs kippt in Mimesis, in jene unterstellte Lüge und eben Simulation, die ihrerseits vorfabrizierten „Weiblichkeitssemiotiken“ gehorcht, sie perpetuiert in kulturellen Symbolisierungen.
Jean Martin Charcots und Paul Richers Les demoniaques dans l'art‘ ist ein beachtenswertes Dokument an der Nahtstelle von Kunst-, Medizin-, Kultur- und Mediengeschichte, angesiedelt im Vorfeld der Psychoanalyse; es ist sorgfältig übersetzt und überarbeitet hinsichtlich des Bildmaterials. Die hohen Ansprüche des Herausgebers Manfred Schneider und seines Nachworts an den Leser sind unerläßlich und erhellend, wenn denn ein Stück unorthodoxer Motivgeschichte kritisch hinterfragt werden darf, soll und muß.
Jean-Martin Charcot und Paul Richer: Die Besessenen in der Kunst. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Manfred Schneider. In Zusammenarbeit mit Wolfgang Tietze. Aus dem Französischen von Willi Hendrichs. Steidl Verlag, Göttingen 1988, 171 S., zahlr. Abb., geb., 45 Mark
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