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WILL GROHMANN

■ STRASSENBILDER

Mit der Übersiedlung nach Berlin im Herbst 1911 beginnt der zweite Abschnitt im Schaffen Kirchners. Die Metropole fasziniert ihn, er fühlt sich im Anonymen der Millionenstadt geborgen, erlebt ungesehen und beobachtet als ein dem Weltstadtleben nicht Zugehörigen um so schärfer. Er nimmt nicht teil, sondern registriert, verarbeitet und gestaltet.

Ehe Kirchner die entscheidenden City-Bilder malt, umkreist er sie und malt Vororte, Friedenau, wo er in der Durlacher Straße 14 wohnt (...); dann Schöneberg, Steglitz, die Gegend um den Oranienplatz. Es sind keine attraktiven Motive, Kirchner macht sie attraktiv, malt das „Elisabeth-Ufer“ und „Gelbes Engel-Ufer“ zwischen Potsdamer Bahnhof und Spree, den „Belle-Alliance-Platz“ am Halleschen Tor, die Eisenbahnüberführungen und Stadtbahnbrücken mit den Zügen und Gleisanlagen in Friedenau, Schöneberg und Wilmersdorf. Häßliche Anblicke, aus denen Kirchner das macht, was er für seine Vorstellung von „Steinernem Meer“ braucht. Die Straßen und Plätze sind leer oder mit Figuren, die wie Noten aussehen, gefüllt, die Fassaden sind hohl, mit toten Fenstern. Die Kreuzungen scheinen nur dazu da zu sein, um Straßenbahn-Linien sich schneiden zu lassen, die S –Bahnbrücken, um Bewegung und Tempo über und unter der Erde zu signalisieren. (...)

Das traditionslose Berlin erhält gerade durch die Übersteigerung der rasch aufgeschossenen Häßlichkeit einen Schimmer sympathischer Wahrheit. Man muß die Farben sehen, das Carminrot der Häuserwände und Dächer gegen das Blaugrün des Bahntraktes auf dem „Eisenbahn-Bild“, rechts unten eine Ecke Preußischblau, rechts oben Kuben in Ocker – reine Erfindung des Malers, wie die verstaubten Raben des „Belle –Alliance-Platzes“ freie Erfindung sind, aber auch Empfindung und Einschaltung des Erlebnisses, das kaum einen Unterschied macht zwischen dem Menschen und seinem Stadtmilieu. Die Bäume atmen dieselbe Luft wie die Passanten, das Steinerne Meer umfängt beide. Nur an der Peripherie der Stadt ist die Natur als solche noch zu erkennen, in dem „Wirtsgarten bei Steglitz“ mit den Akazien über den weißgedeckten Tischen und dem Treppenweg zur Anhöhe; Saftgrün und gelber Ocker, etwas Schieferblau, das ist alles. Kirchner liebt die Gegensätze, gleicht selten an, dramatisiert selbst die Landschaft.

Das Ergebnis aller dieser Bemühungen sind die Straßenbilder, alle von 1913 und 1914. Wie Orgelpfeifen sind die eleganten Frauen mit den Spitzen Formen ihrer Gesichter und Kostüme aufgereiht, genormte Figurinen wie die Männer auch mit ihren hohen Topfhüten. Hier ist nichts Natur, selbst die Pferde sind Schemen wie die Räder der Autos. Die Liebe zum Natürlichen spielt Kirchner nicht etwa einen Streich, er weiß zu trennen, hier ist ein Thema, das anders bewältigt sein will, weil es von anderer Substanz ist. (...)

Eine Passage aus Will Grohmanns 1958 veröffentlichter Biographie Ernst Ludwig Kirchners. Bis zum 5. November sind in der Staatsbibliothek im Rahmen einer Georg-Heym –Ausstellung bisher unpublizierte Holzschnitte zu sehen.

Ausgewählt von Michael Trabitsch

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