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Nordsee: Nach dem großen Sterben

■ Drei Viertel der Seehunde sind verendet / Die Überlebenden verlassen die Küstenregion / Giftverbrennung auf See bis 1994 Greenpeace blockierte Chemiewerk / Recyclinganlage für Dünnsäure nimmt Betrieb erst im Herbst kommenden Jahres auf

„Und was noch nicht gestorben ist, das macht sich auf die Socken nun“. Diese Liedzeile aus Brechts „Mutter Courage“ gilt in diesen Tagen für die Seehunde in der Deutschen Bucht. Drei Viertel sind den Sommer über verendet. Die Überlebenden verlassen die küstennahen Sandbänke und schwimmen weiter ins Meer hinaus. Auf diese Wanderung begeben sich die Seehunde jedes Jahr um diese Zeit. Die Deutsche Presseagentur meldet in diesen Tagen das Ende des Seehundsterbens. „Voreilig“, meint Carsten Redlich von Greenpeace, „wegen der Wanderung findet man jetzt keine Kadaver mehr.

„Wer jetzt noch nicht gestorben ist“, wird der den nächsten Sommer überleben? Auch dann noch wird sich die giftige Dünnsäure aus dem Nordenhamer Kronos-Titan Werk in die Nordsee ergießen. Zwar hat Umweltminister Klaus Töpfer sich in dieser Woche die Recycling-Anlage angesehen, die den Säurestrom in Zukunft aufnehmen soll. Doch diese Zukunft wird erst im Herbst des kommenden Jahres beginnen. Töpfer war dennoch des Eigenlobes voll: Die Bundesrepublik sei das erste EG-Land, das mit der Verklappung Schluß mache. Und das vorfristig! Jeder Monat früher sei ein Gewinn für die Umwelt.

Tatsächlich hält die Bundesrepublik gerade so eben die Fristen ein, die auf der Londoner Nordsee-Konferenz vom November 1987 vereinbart worden sind. Auf dem Papier steht, daß schon ab dem Jahresbeginn 1989, also in gut einem Monat keine Säure mehr in die Nordsee gekippt werden darf. Eine „Schonfrist“ bis zum Ende des Jahres 89 wurde den Nationen jedoch eingeräumt. Bis dahin sollen die Recycling-Anlagen eingefahren sein, so daß sie unter Vollast arbeiten können. Außer der Bundesrepublik halten sich nur noch Belgien und die Niederlande an das Abkommen. England und Frankreich haben sich

Ausnahmegenehmigungen bewilligt. Gegenüber diesen beiden Nationen - insofern hat Töpfer recht - liegt die Bundesrepublik vorn.

Den wenigen überlebenden Seehunden dämmert hier also ein Silberstreif. Anders bei der Verbrennung von giftigen Chemikalien auf See. In Rheinberg bei Duisburg haben Greenpeace-Aktivisten aus Dänemark, den Niederlanden und der Bundesrepublik am Dienstag die Tore der Solvay-Werke besetzt. Solvay ist ein belgischer Chemie-Riese mit über 100 Produktionsstätten in 22 Ländern. Getarnt als „Spedition Friedemann und Grün“ waren die Greenpeace-Leute vorgefahren. Auf ihrem Laster hatten sie ein Modell des deutschen Verbrennungsschiffs Vesta, das sie der Firma quer vors Tor stellten. Zu dem Giftstrom, der sich aus dem chemischen Werken Europas in die Verbrennungsschiffe ergießt, trägt Solvai seinen Teil bei. Mit Tanklastwagen werden die Solvay -Gifte (überwiegend chlorierte Lösungsmittel) nach Antwerpen gefahren, dort an Bord der Vesta gepumpt und am östlichen Ausgang des Ärmelkanals verbrannt. Der Schornstein des Schiffes ist kaum fünf Meter hoch. Deshalb sinkt der Rauch in der weiteren Umgebung aufs Wasser. Mit der vorherrschenden Meeresströmung treibt das Gift in die deutsche Bucht. Die Verbrennungsprodukte Hexachlorbenzol (HCB) und Oktachlorsterol (OCS) wurden in diesem Sommer nicht nur in Fischen und Robben nachgewiesen, sondern auch im Sand des Meeresgrundes. Dennoch soll die Verbrennung bis zum Jahre 1994 weitergehen. Im vergangenen Jahr sind nach Angaben des Bundesverkehrsminiseriums noch über 50.000 Tonnen Industriegifte allein aus bundesdeutscher Produktion verbrannt worden. Im laufenden Jahr werden es etwa 30.000 werden.

Die Duisburger „Gesellschaft

für Verbrennung auf See“ (GVS) sammelt bundesweit die giftige Brühe und fährt sie mit einem Tanker nach Antwerpen. Auch Bremen ist eine wichtige Umschlagstation: Zu den Zulieferen der GVS gehört auch die Bremer Müllfirma Märtens.

Erst im Oktober dieses Jahres

hat die GSV eine neue Genehmigung von Deutschen Hydrographischen Institut (DHI) in Hamburg bekommen. Die Verbrennung darf weitergehen. Allerdings muß die Gesellschaft nachweisen, daß an der Verbrennung der Gifte ein „zwingendes öffentliches Interesse“ besteht. Dieses

Interesse besteht dann, wenn die GSV erklärt, daß die von ihr gesammelten Gifte nicht deponiert und auch nicht an Land verbrannt werden können. Allerdings, so war gestern aus dem Bundesverkehrsministerium zu hören, muß die Gesellschaft das nicht beweisen, sondern gegenüber dem DHI

nur „erklären“. Ob auf diese Weise die Seeverbrennung bis 1994 gestoppt werden kann, bezweifelt nicht nur Greenpeace. Ein Manager des blockierten Chemiewerks am Dienstag zu den Umweltschützern: „Das sehe ich noch nicht“.

Michael Weisfeld

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