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Schwule - endlich gesellschaftsfähig

■ Schwule auf dem Weg in die „nette Gesellschaft“

Nicht ohne Stolz setzten die Organisatoren auf ihrer Ankündigung hinter den Veranstaltungsort ein Ausrufezeichen, schließlich war die Örtlichkeit nicht ohne. Unlängst trafen sich Lesben und Schwule im Reichstag (!), um über das Für und Wider staatlicher Gelder für Selbsthilfeprojekte zu diskutieren. Ein Diskutant brachte die Vorteile auf den Punkt: Berührungsängste auf beiden Seiten könnten abgebaut werden, wenn man mit dem Staat in Verhandlungen tritt, um Finanzierungshilfen rauszuschlagen. Die da oben könnten dabei erfahren, daß homosexuelle Menschen auch ganz nette Menschen sind. Recht hat der Mann.

Vor zehn Jahren war es noch undenkbar, daß Schwule außerhalb ihrer Kreise jemanden um Hilfe angehen könnten. Seit Aids ist alles anders. Die Gefährdung einer ganzen Bevölkerungsgruppe durch eine tödliche Krankheit brachte die Verantwortlichen auf Trab. Der Hinweis, etwas gegen die Gefahr zu unternehmen, öffnete die Kassen des Selbsthilfetopfs, die Hallen für konsumerable Benefize, die Medien für Begleitmusik mit ‘human touch. Plötzlich war man wer. Zwar gezeichnet von der Krankheit und nur mit Glacehandschuhen zu behandeln - aber immerhin. Bereitwillig übernahm das schwule Kollektiv den bösen Blick, und die vier Buchstaben wurde zur zweiten Haut: Wir sind im Post-Aids -Zeitalter. Die Opfer wollen Opfer bleiben, das kann der Bittstellerhaltung nur zuträglich sein. Aus einer sozialen Bewegung mit dem gesicherten Platz in der Randständigkeit wurde eine Gemeinschaft potentieller Kranker, die den Sozialstaat zur Kasse bitten. Aus dem Auge verloren sind die politischen Ziele von einst, die nicht unbedingt auf Integration abzielten - schon gar nicht im Status des langsam Dahinsiechenden -, sondern vielmehr eine Autonomie meinten, die nicht unbedingt den Einklang mit den gesellschaftlichen Verhältnissen suchte.

Maßgeblich ist heute die Reputation. Schwule Sportvereine buhlen um Aufnahme in den Landessportbund, und schwule Männerchöre wollen gemein sein mit den Bäcker-, Fleischer und sonstigen Sangesrunden. Aids-Hilfen schmücken sich in ihren Hochglanzbroschüren mit Grußworten der Regierenden, und der Reichstag mit Livree-Kellner und Übersetzer-Box ersetzt den Muff der SchwuZ-Fabriketage. Die notwendigen Selbsthilfeprojekte setzen schon lange nicht mehr auf die eigene Kraft, sondern versuchen sich - unter dem Aids-Segel

-als Einstiegsdroge in eine nette Gesellschaft netter Menschen.

Elmar Kraushaar, ehemals Mitarbeiter des schwulen Buchverlages „Rosa Winkel

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