: Scherf: „Ausschuß verfassungswidrig“
■ Machtspiele im St.-Jürgen-Ausschuß mit „kleinen Beamten“, dem „Ostblock“ und der Wahrheitsfindung / Eine Farce im inzwischen dritten Akt, frei, aber sinngemäß um den Sachaufklärungsgehalt bereinigt
Besetzungsliste: Bürgermeister, 1. Ausschuß-Vorsitzender, Stellvertreter, Statisten, Journalisten, Publikum.
Vorsitzender (bemüht sachlich): Herr Dr. Scherf, Sie sind als Zeuge geladen. Als Zeuge müssen Sie die Wahrheit...
Zeuge (ungehalten): Ihre Belehrung können Sie sich sparen. Ich bin selber Jurist...
Vorsitzender (schärfer): Ich muß Sie pflichtgemäß belehren... Herr Dr. Scherf, Sie sollen heute zu zwei Punkten gehört werden. Die wollen wir in aller Sachlichkeit erörtern.
Zeuge: Ich habe für heute eine schriftliche Aussage vorbereitet, weil ich inzwischen Ihre Art, mit Unterstellungen zu arbeiten, kennengelernt habe. (Raunen bei den stellvertretenden Ausschußmitgliedern). Ich bitte, das vollstän
dig verlesen zu können. (Schwierigkeit des Tonfalls: Er muß persönliche Beleidigtheit deutlich werden lassen, „angefaßt“ scharf klingen, darf aber nicht von „unten“ kommen, sondern Machtverhältnisse klärend: also souverän -selbstverständlich und vibrierend-betroffen) „Der Untersuchungsausschuß ist ein Ausschuß der Bürgerschaft. Er hat Kontrollaufgaben auf Landesebene. Zulässig ist allein...
Vorsitzender: Herr Dr. Scherf, ich entziehe Ihnen das Wort und weise Ihre Unterstellungen entschieden zurück. Der Auschuß zieht sich zur Beratung zurück. (Pause, Raucher rauchen, Journalisten bitten um Kopien der schriftlichen Aussage
Vorsitzender (15 Min. später): Herr Dr. Scherf, Ich muß Sie noch einmal über Ihren Status als Zeuge belehren. Sie haben hier
zur Sachaufklärung beizutragen. Rechtsdebatten können wir nur zulassen, soweit sie Ihre Zeugenrechte betreffen.
Scherf: Ich fahre in der Verlesung fort: „Die Frage, ob Sie untersuchen dürfen, was in einer Fraktion vorgeht, hat ganz grundsätzliche Bedeutung. Ich halte Ihr Vorgehen für verfassungswidrig.“ (empörtes Gemurmel: „unerhört“, „das gibts doch nicht“. Ausschuß selbst nimmt Machtkampf an, Suggestion von Souveränitat: gelangweiltes Zurücklehnen...) „Die Frage, die Sie hier klären wollen, ist so wichtig wie die Frage, ob der Mond heut scheint. Ich fasse zusammen: Es fehlt Ihnen hier an Kompetenz, Überblick und Augenmaß.“ Vorsitzender (um Gemessenheit ringend, wissend, daß Schärfe als „Wirkung zeigen“ verstanden würde, deshalb mit fast mitleidiger Nüchtern
heit): Herr Zeuge, der Ausschuß nimmt Ihr Elaborat aus Unrichtigkeiten, Bewertungen und Sachverhaltsdarstellungen gelassen zur Kenntnis. Können wir jetzt in Aufklärung der Fragen eintreten?
Klein: Könnten Sie auf einfache Fragen bitte klar mit Ja oder Nein antworten!
Scherf: Wir leben hier nicht im Ostblock.
Klein (crescendierend, rötlich verfärbt, halb stehend über den Tisch gebeugt): Umgekehrt, Herr Zeuge, Sie leben in dem Wahn, sich davonstehlen zu können, indem Sie auf einfache Fragen die Antwort verweigern.
Scherf (seinen Stuhl in Sitzhaltung mehrfach vom Boden lüpfend und durch sein Körpergewicht anschließend auf den Boden knallend): Sie glauben, mit mir umgehen zu können, wie mit kleinen
Beamten, die sich nicht wehren können. Sie arbeiten an der Grenze der Strafprozeßordnung.
Klein: Sie schützen hier Unwissenheit vor.
(usw. Ergebnis in der Sache übrigens: Scherf hat für Scherf nie gelogen, hat nie die Aufklärung von Unregelmäßigkeiten verzögert, hat vielmehr allen Grund, stolz zu sein, Galla endlich aus dem Amt geholt zu haben. Was Ausschußmitglied Klein sich wahrscheinlich denkt, kann man sich denken. Aber nicht mehr sagen. Das kann ein Ordnungsgeld von 500.000 Mark kosten.
Mit dieser Androhung ist auf Scherfs Antrag seit gestern der „Weser-Report“ bedroht, falls er wiederholt: „Scherf verzögert Ermittlungen, um seinem Parteifreund Galla einen honorigen Abschied zu ermöglichen“).
K.S.
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