„Es ist nicht vergeblich gewesen...“

UdSSR-Verfassungsänderungen jetzt publiziert / Unionsrepubliken besser vertreten als geplant / Trotzdem neue Proteste in den baltischen Staaten  ■ I N T E R V I E W

Moskau/Riga (ap/dpa/taz) - Durch den Widerstand vor allem der baltischen Republiken sind einige Korrekturen am Änderungsgesetzentwurf der UdSSR-Verfassung vorgelegt worden. Die endgültige Fassung wurde am Samstag in der sowjetischen Presse veröffentlicht. Der prozentuale Anteil der Sitze der Unionsrepubliken in der Nationalitätenkammer des Obersten Sowjet wurde zugunsten des ursprünglichen Entwurfes erhöht. Für Entscheidungen über die Grenzen und das Austrittsrecht der Einzelstaaten wurde eine Kompromißformel gefunden, auch bei der Verhängung eines Ausnahmezustandes wird den Republiken in der Neufassung eine „Mitwirkung“ zugesagt. Weiterhin können die Republikführungen aber nicht verhindern, daß die Sicherheitstruppen des Moskauer Innenministeriums auf ihrem Territorium eingesetzt werden. Eine Einschränkung der Autonomie der Republiken bedeutet auch eine Bestimmung, nach der das Präsidium des Obersten Sowjet „über die Übereinstimmung der Gesetze der Union und der Republiken“ wacht. In Litauen stand am Sonntag auf einem Kongreß der Volksfront „Sajudis“ eine Beschwerde über die Neuregelung an die UNO zur Abstimmung. Über die neue Situation sprach die taz mit Danis Ivans, dem Vorsitzenden der Volksfront in Lettland.

taz: Muß man angesichts des Ergebnisses von einem Mißerfolg der baltischen Volksfronten in ihren Bemühungen um Souveränität der Unionsrepubliken sprechen?

Ivans: Keineswegs. Wir haben zwar noch keine Gelegenheit gehabt, die nun beschlossene Fassung im einzelnen zu analysieren, aber insgesamt ist der Oberste Sowjet unseren Forderungen entgegengekommen und einen Kompromiß eingegangen. Jene Verfassungsänderungen, die für die Republiken eine Einschränkung ihrer Souveränität bedeutet hätten, sind fallengelassen worden. Wir haben in dieser Hinsicht zwar keine Verbesserung, aber auch keine Verschlechterung des Status quo ante erreicht.

Welchen Rückhalt haben die weitergehenden Forderungen der baltischen Republiken im Obersten Sowjet der UdSSR gefunden?

Im Apparat und unter den Deputierten wurden sie allgemein mit einem gewissen Mißtrauen beobachtet. Ganz anders hingegen in den besonderen Kommissionen des Obersten Sowjet, die mit der Ausarbeitung der Gesetzesvorschläge betraut waren, dort wurden unsere Anliegen mit Interesse und Verständnis zur Kenntnis genommen. Aber auch dies konnte nicht verhindern, daß im neugefaßten Paragraphen 109 der Sowjet-Verfassung nur unionsweit organisierten gesellschaftlichen Organisationen wie zum Beispiel Partei, Gewerkschaften, Komsomol 750 Mandate in dem demnächst zu wählenden Kongreß der Volksdeputierten der UdSSR zugestanden werden - ein gewaltiges Potential an Konservatismus.

Ist mit der Verabschiedung der Reformgesetze im Obersten Sowjet der UdSSR für die baltischen Volksfronten das Thema Verfassung erschöpft?

Keineswegs. Wir müssen eine Verfassung für unsere Republik erarbeiten, in der die Selbständigkeit Lettlands und die damit zusammenhängenden Besitzrechte verankert sind. Zuerst aber gilt es, erfolgreich die anstehenden Wahlen zum Obersten Sowjet der Lettischen SSR zu bestreiten, in seiner jetzigen Zusammensetzung bietet er keinen Anlaß zum Jubel. Ein Beispiel: Als auf der Sitzung am 22.November die Vorschläge zur Verfassungsreform beraten wurden, standen draußen auf der Straße Demonstranten, die die Deputierten auf Plakaten aufforderten, sich mit ihren estnischen Kollegen zu solidarisieren und im Paragraphen 71 der sowjet -lettischen Verfassung einen Veto-Mechanismus gegenüber den Unionsgesetzen festzuschreiben. Allerdings bezeichneten nicht wenige der Abgeordneten diese im strengen Frost ausharrenden Menschen als Schreihälse oder Kindsköpfe. Im übrigen blicken wir gespannt auf die Sondersitzung des Obersten Sowjet der estnischen SSR am 5.Dezember. Nach den mir vorliegenden Informationen ist davon auszugehen, daß die Deputierten ihre Erklärung zur Souveränität der Republik, die sie am 16.November verabschiedet hatten, bekräftigen werden. Die Demonstrationen am 26.November in Lettland, Litauen, Estland, Georgien und Armenien fanden nicht zufällig gleichzeitig um 12 Uhr statt. Und gewiß werden die Bewegungen, die für die Stärkung der Souveränitäts-Rechte der einzelnen Republiken und für eine Ausweitung der Demokratie eintreten, ihre Bemühungen auch in Zukunft untereinander abstimmen.

Im Zusammenhang mit den Protesten der Volksfront Lettlands gegen die Verfassung sind auch gegen Sie in der Öffentlichkeit heftige Vorwürfe erhoben worden: Destabilisierung der politischen Verhältnisse in der Republik (Büro des ZK der KP Lettlands), die Unterschriftenkampagne hat tatsächlich den Rahmen aller Vernunft gesprengt (A. Liberts, Vertreter der sogenannten Internationalen Front in Lettland, laut 'Prawda'-Interview vom 26.November). Was sagen Sie dazu?

Gerade das letztgenannte Beispiel belegt eine gewisse antidemokratische Tendenz in der zentralen Presse: Über die Volksfront Lettlands wird nicht informiert, sondern desinformiert. Die Autoren machen keinen Hehl daraus, daß sie gegen uns eingestellt sind, den Lesern wird somit keine objektive Berichterstattung geboten. Da verurteilt ein Gremium von 16 Mitgliedern, das Büro des ZK der KP Lettlands, eine Unterschriften-Aktion, an der sich allein in Lettland rund eine Million Menschen beteiligt haben! Und zweifelsohne gibt es in der KP Lettlands ganze Gliederungen wie etwa die in Riga, die die Entwicklung der letzten Jahre am liebsten rückgängig machen möchten. In diesem Sinn kann man zur Zeit auch von einer Krise der Demokratie in unserer Republik sprechen.

Interview: Ojars J. Rozitis