piwik no script img

Da habe ich die Tür zugeschlagen

■ Eine 79jährige Frau saß wochenlang auf der Straße. Zwei Jahre ist das her. Und alle wollten ihr helfen. Das Sozialamt, die Kirche, die Ordnungsbehörden, die Zeitung, das Gesundheitsamt, die Justiz, die Psychatrie. Nur: die Frau war von der Art der Hilfe alles andere als angetan: Aufzeichnungen von einem längst vergessenen Vorfall

Peter Krauß

Die Story I. „Regungslos, von den Passanten kaum beachtet, sitzt seit dem 28.Mai eine ältere Frau tagein tagaus auf einer Bank inmitten des Stoltze-Plätzchens hinter der Katharinenkirche“. So berichtete die 'Frankfurter Rundschau‘ in ihrem Lokalteil am 12.Juli 1986. Und der 'FR'-Reporter Reinhard Sogl weiter: „Ihr stiller Protest richtet sich gegen die zwangsweise Räumung ihrer ehemaligen Wohnung in Sachsenhausen. Von einem 'Überfall‘ spricht Frau S. Man habe sie regelrecht rausgeschmissen. Obwohl sie laut um Hilfe geschrien habe, sei ihr niemand beigestanden. (...) Ihr Gesundheitszustand gibt mittlerweile Anlaß zu größter Sorge. Ihr Gesicht ist von Sonnenbränden gezeichnet, sie hat Schwierigkeiten mit den Augen, und die Fettcreme, mit der ihr die beiden hilfsbereiten Frauen die wunden Beine einreiben, kann die sich ausbreitende Entzündung nur hinauszögern. (...) Doch wie kann Abhilfe geschaffen werden? Der Staat darf in die Freiheits- und Persönlichkeitsrechte eines Bürgers erst eingreifen, wenn er seiner Sinne nicht mehr mächtig ist und für sich selbst oder andere eine Gefahr darstellt.“

Der Unfall. 1936, der 27.August. Ich kam abends um acht aus dem Spätdienst vom Stadtrat Doktor Möller, bei dem saß ich im Vorzimmer. Mein Verlobter und ich wollten vier Tage später in die Ferien fahren. Ich hatte ja Putzfrau, Waschfrau und Kindermädchen gehabt. Aber ich dachte, machst du es selbst. Ich nahm mir die Kleinwäsche vom ältesten Sohn vor, der schon im Bettchen war. Übermüdet bin ich am Kinderwaschkessel eingeschlafen. Durch ein Unglück entstand Giftrauch. Morgens erst fand man mich. Die Nachbarin hat immer durchs Schlüsselloch geguckt, und da sagte sie, och die is in die Arbeit gegangen, die hat das Bügeleisen steckenlassen. Da muß man die Feuerwehr kommen lassen. 'N anderer hat gesagt, da wohnt ene oben im letzten Stock, die will sich das Leben nehmen - also so'n Quatsch dann rundrum. Um halb elf vormittags kam die Feuerwehr, die haben mich rausgeschleppt und im Treppenhaus mit dem Sauerstoffgerät bearbeitet. Man dachte, mein Bein wäre zeitlebens gelähmt, aber nach zwei Monaten war ich wieder Arbeitskraft. Heute noch hängt man mir hinterlistig den Unfall von August '36 an. Ich hätte ein angeborenes verkürztes Bein, heißt es.

Der Angriff I. 1943 wurde unsere damalige Wohnung in Frankfurt durch Bombenangriffe eine Tropfsteinhöhle. Es hat reingeregnet. Die Einrichtung und alles ging kaputt. Aber später sollte ich einen doppelten Mietpreis entrichten. Ich habe gesagt: Für was? Der Kantor

Martin Lücker (Katharinenkirche am Stoltze-Platz in Frankfurt): „Liebe Frau S., wir haben Ihren Brief erhalten und danken für Ihr Vertrauen, sind aber auch gleichzeitig bestürzt darüber, daß Sie sich offensichtlich von keinem anderen Menschen helfen lassen wollen als von uns. Nun ist die Sache aber so, daß wir momentan selber durch verschiedene Umstände so belastet sind, daß es uns leider unmöglich ist, uns weiterhin ausschließlich um Ihre Belange persönlich zu kümmern, wie dies in den ersten 14 Tagen geschehen ist, wo dies auch notwendig war; zumal ja die 'halbe Stadt‘ guten Willens ist, Ihnen jede erdenkliche Hilfe zukommen zu lassen. Wenn Sie in wirklicher Notlage sich befänden, wären wir selbstverständlich abermals bereit, unsere Zeit und Kraft in den Dienst Ihrer Sache zu stellen; so aber, da so viele Menschen auch von Amts wegen sich um Sie kümmern, sehen wir uns etwas enttäuscht von Ihrer Haltung und sind nicht willens, diese noch zu unterstützen. Mit freundlichen Grüßen, Martin Lücker und Frau.“

Der Angriff II. Am 14.März '49 bin ich plötzlich überfallen und verschleppt worden. Die mich verleumdet haben, war eine Polizistenfamilie aus dem ersten Stock, und das ganze Haus hat mitgemacht. Nach dem Krieg hat man zwar das Haus notdürftig abgedeckt, aber es regnete immer noch rein. Wir machen Krieg, und Krieg kostet viel Geld. Nach dem Motto, der Krieg hat viel Geld gekostet, wehrlose Opfer müssen gefunden sein, haben se ja gearbeitet, die Bande vom Amt und Behörden und Justiz und Polizei. Ich hatte '48 noch eine gegen mich angestrengte Räumungsklage gewonnen, und der freche Verwalter meinte, er wüßte schon ein Mittel, mich trotzdem aus der Wohnung zu kriegen. Hat er. Sie brachten mich nach Niederrad, in die Klapsmühle. Es hieß: Nach sechs Jahren in dieser von den Bomben zerstörten Wohnung ist das eigene Verwahrlosung.

Die Befreiung. 1949 habe ich dann Befreiung durch meine Schwester gekriegt. Man sagte ihr: Ach wie können Sie Ihre Schwester rausholen, die kriegt doch Anfälle! Anfänglich hat man sie mehrmals abgewiesen. Aber sie kam wieder, da sagte man ihr, sie könne mich jetzt nicht mitnehmen, weil meine Schuhe beim Schuster wären. Und all so'n Quatsch.

Der Bunker. 1950 wohnten wir im Bunker Heddernheim, so ein großer Mordsblock aus den Kriegsjahren, alles ohne Fenster, klamm, da mußten wir rein, wie in eine Dunkelkammer. Dort waren Leute, die keine Wohnung hatten, vom Wohnungsamt einquartiert worden. Ich hab mir das aber nicht gefallen lassen. Ich nahm den Sohn und bin raus, als da Wanzen liefen. Wir waren die ersten, die getürmt sind, nachher hat man den ganzen Bunker ausgegast. Just zu der Zeit traf ich auf der Straße einen Mann, der sagte, er hätte eine Bude in der Zeißelstraße, die Woche für fünf Mark. Und da sagte ich: och gern, da hab ich wenigstens Tageslicht. Das war ein Verschlag unterm Dach, mit einem Tisch und einem Stuhl.

Der Idiotenarzt. Seitdem ich '49 das erste Mal wieder rauskam, hat man mich immer wieder gedrückt. Und fand ich zufällig eine Arbeit, und die vom Stadtgesundheitsamt kamen dahinter, war's aus damit. '51 haben sie mich gezwungen, zum Idiotenarzt zu gehen. Zu drei Stück. Der dritte hat mich gar nicht mehr angenommen, aber er hat den Quatsch, den die anderen geschrieben haben, einfach übernommen. Und so haben sie mich gedrückt. Und anschließend auf Rente gesetzt. Mit 43 Jahren. Der Redakteur

Lothar Vetter ('Frankfurter Rundschau‘, Lokales): „Ich habe mich monatelang mit der Frau befaßt. Die geht ins Abseits, da ist nix zu machen. Die ist verkalkt, das ist eine Alterserscheinung, die so schlimm wird, daß sie wahrscheinlich ohne eine Einweisung, ...die Frau ist geistig bereits weggetreten...ich weiß gar nicht, wo sie jetzt lebt. Wir haben alles versucht. Setzen Sie doch mal beim Sozialamt an, dort kennt man den Fall, auch die haben die Hand drauf, oder nicht mehr, weil man ratlos ist. Wissen Sie, ich bin als Tageszeitungsjournalist irgendwann auch mit meiner Aufgabe zu Ende: Öffentlichkeit zu schaffen, dem Amt ein bißchen Dampf zu machen. Ich habe seit Monaten keinen Kontakt mehr mit ihr gehabt, außer daß ich diese unsäglichen Briefe kriege, alle paar Tage, aus denen nichts hervorgeht. Entschuldigung, wenn ich jetzt mal ein bißchen in Praß komme, ich verstehe nicht, was Sie von mir wollen. Rufen Sie das Sozialamt an. Ich habe zum Schluß gebeten: Bringt sie unter! Macht was! Entweder Heim, oder nicht, oder die Street -worker müssen her.“

Der Eisenbahner. Dann kam der Isegrim. Den hab ich draußen im Lokal kennengelernt. Das ist der Mann, mit dem ich später im Gallusviertel wohnte. Der hat mir im Lokal beim Äppelwein gegenüber gesessen und schöne Augen gemacht. Mit seinen Händen fuchtelte er rum, so was wie Zeichensprache, weil der Kamerad neben ihm das nicht merken sollte. Er wollte anbandeln mit mir: Fünf Uhr. Hier am selben Platz. Morgen. Ich habe genickt, bin aber nicht hin. Viel später bin ich wieder in das Lokal hinein, da sitzt schon eine mit ihrem Freund da und winkt. Ach komm zu mir, komm zu mir, sagte sie, da im Klo ist einer, ein Netter, ein Witwer von der Eisenbahn, der will ne gute Frau, und ich wär die Richtige. Aus Neugier bin ich mal sitzengeblieben und hab mir gedacht: Guck ihn dir mal an. Und dann kam er und wer war's, der Isegrim, den ich Weihnachten hab stehn gelassen. Jedenfalls hat der mich dann aus der Zeißelstraße heraus in seine Wohnung gelockt. Er sagte, zieh zu mir, ich heirate dich sofort. Ich habe ja in dem Moment auch noch gut ausgesehen, nich. Und die anderen Kameraden von ihm, die hätten mich auch gern gehabt. Aber er hat sich immer extra schön gemacht, als Kavalier, und ich bin so dumm gewesen. Ich habe nicht gewußt, daß ich einen alten Nazi heirate, im April 1954. Seine Mutter ist Zeitung austragen gegangen und hat ihn damals als Kind im Wagen mitgeschleppt. Und er? Ein Faulenzer war er! Die Bahn hat ihn entlassen. Seine Freundin aus der Hafenstraße hat er in meiner Ehe beibehalten, und uns daheim hat er das Licht abgedreht und das Gas abgesperrt. Ich mußte meine Lebensmitteltüten, die ich von meinem Geld gekauft hatte, zur Nachbarin bringen, damit er uns das nicht wegnimmt. Der war ein ganz raffinierter Bursche.

Die Heim-Holung. '49, im Jahr des Überfalls, fing Lothar, mein Jüngster, gerade erst an, Füßchen richtig zu setzen. Da kamen sie und haben ihn geholt. Nach Gellenhausen kam er, nach Birschstein und zuletzt nach Kilianstätten bei Hanau. Mit sieben Jahren habe ich ihn als ängstliches Heimkind bekommen, weil ich dann verheiratet war, sonst hätte ich den auch nicht gekriegt.

Später, der Isegrim lag längst unter der Erde, wohnten wir in der Jahnstraße. Da hieß es, ich hätte den Lothar, meinen jüngsten Sohn, mit völlig nasser Hose auf die Arbeit geschickt und wie ich als Mutter so was dulden könnte. Das war alles zusammengelogener Dreck.

Die Straße I, Mehrmals schob man mich nach Hannover ab. Aber ich kam immer wieder zurück nach Frankfurt. '71 sollte ich in die Bockenheimer Straße. Da hatten die mich schon hinterlistig auf Pflegefall gesetzt, so spielen die die Masche. Also, ich kam zurück, ohne Wohnung, und habe mir einen Platz an der Hauptwache gewählt, dort wo die Taxis stehen. Beim Uhren-Christ. Aber das hat der Behörde auch nicht gepaßt.

Ein ganzes Jahr habe ich auf der Straße gelegen. Bei jedem Wetter, die ganze Nacht, ein Jahr. Erst dann bekamen wir die Wohnung in der kleinen Rittergasse. Der jüngste Sohn war noch im Heim, und der älteste ist mir nachgefahren, von Hannover nach hier. Der ist in Frankfurt mit dem Fahrrad immer rumgefahren, hat sich versteckt und in Toiletten übernachtet, weil er nicht wie ich draußen sein konnte, ihm war das zu kalt. Ich saß an der Hauptwache und hab Brezeln verkauft. Am Nachmittag habe ich dann meinen Korb aufs Fahrrad und bin ab in die Äppelweinbuden. Dort habe ich prima verkauft, die haben schon gewartet und gewunken, wenn ich kam. Von mir haben sie gern gekauft, aber von der Frau Klüse, die ein Stück weiter stand, nicht. Weil, die war so furchtbar schmutzig.

Ich hab immer gearbeitet. Mal bin ich von Tür zu Tür gelaufen und hab Zeug verkauft, dann bin ich rausgefahren und hab auf Zeitschriften gemacht, prima ging das. Mit Honig bin ich auch unterwegs gewesen.

Der Amtsleiter

Otto Humpert (Sozialamt Frankfurt): „Die Mitarbeiter der Rundschau habe da am Anfang sehr gute Sozialarbeit geleistet, das muß ich wörklich sage, aber irgendwann habe die gsagt, eigentlich sin ma ja zuam annere Gschäft da. Die habe sogar recht lange des, was sie schon gewußt habe, gar net in die Zeitung gebracht. Und habe im Grunde mir gegenüber gesacht, eigentlich hätte ma ja ne wunderschöne Story, die ma hier bringe könnte, aber mir sehn ein, daß die Belange der Dame hier so wie se sin, so wie se im Moment dasteht, des einfach net vertrache.

Frankfurt hat etwa 600.000 Einwohner, es muß doch net jeda wisse, der da an ner bestimmte Frau vorbeigeht, aha, mit der is Folchendes los. Des is für uns nätürlich nix Neues, solche Fälle gibt's taus...gibt's hundertfach. In jeder Großstadt. Die 'Rundschau‘ hat des halt aufgegriffe, wall se menschlich berührt warn, und habe gesacht, irgendwie sin ma ja net nur Journalischt, sondern ma sin ja auch irgendwo noch an Stück Staatsbürger. Irgendwie hamm ma uns damals beide gegenseitig an die Schulter geklopft, symbolisch, und habe gesagt: naja, eigentlich hamm ma's offenbar ganz gut gemacht.“

Der Angriff III. Zwölf Jahre war ich in der Wohnung in der Kleinen Rittergasse. Am 28.Mai 1986 bin ich überfallen worden. Vormittag war's. Unten hatte die Feuerwehr ein Sprungtuch gespannt, und einer legte in den ersten Stock eine Leiter an. Ich war ganz erschrocken und sagte, was soll denn dieser Quatsch! Schieben Sie los, ich hab damit nix zu tun, sagte ich. Dann kamen sie und haben die Tür eingebrochen, sind reingekommen und haben mich rausgeholt. So'n kräftiger Dicker, der gab mir einen Fußtritt und schleppte mich aus der Wohnung. Und dann bin ich unten in das bereitstehende Auto gesteckt worden. Da hat sogar das Rote Kreuz mitgemacht. Das war so ein Kasten, der hat Gesunde und Kranke verschleppt.

Ich kam in die Anstalt nach Niederrad. Da war ein Arzt, der sagte: Wir wollen Sie bloß schützen, damit Sie sich auch nichts antun. Am nächsten Morgen ließen sie mich wieder raus.

Die Strasse II. Von da an saß ich an der Hauptwache, das war für mich der sicherste Platz. Aus Protest hab ich mich da hingesetzt. Ich bin doch keine Gammlerin. Ich laß mir das doch nicht gefallen.

Die Story II. Bis zum 12.Juli 1986 sitzt Frau S. erneut auf der Straße. Am 15.Juli, also drei Tage, nachdem die 'FR‘ über Frau S. berichtet hat (siehe Story I), und diese dann noch am selben Tag, gegen ihren energischen Willen, von den zuständigen Behörden in die psychiatrische Klinik Weilmünster gebracht worden ist, schiebt die 'FR‘ einen zweiten Artikel und einen Kommentar hinterher. Zitat: „Die Zwangsräumung ihrer Dreizimmerwohnung in der Sachsenhäuser Kleine Rittergasse war bereits vier Jahre zuvor angeordnet worden. Dem Rechtsanwalt, der vor Jahren zu ihrem Pfleger in Vermögensfragen bestellt worden war, gelang es zunächst, die Räumungsklage des Vermieters wegen 'starker Verwahrlosung der Wohnung‘ in einen Vergleich umzuwandeln. Der sah die Räumung der Wohnung bis Mitte 1983 vor. Zwar konnte das Anwaltsbüro auch diesen Termin noch herausschieben, aber am 28.Mai dieses Jahres (1986) mußte sich Frau S. dem Bescheid endgültig beugen.“

Im Kommentar des 'FR'-Reporters Sogl heißt es: „Im Falle von Frau S. war die Verfügung des Ordnungsamtes, sie in das psychiatrische Krankenhaus Weilmünster einzuliefern, rechtlich die einzige Möglichkeit, der 78jährigen zu helfen und der Frau die dringend notwendige ärztliche Versorgung zu sichern. (...) Für Frau S. darf die psychiatrische Klinik nur Zwischenstation sein. Endstation nicht.“ Der Reporter

Reinhard Sogl ('Frankfurter Rundschau‘, heute 'Sport‘): „Das ist ein heikler Fall. Ich kenne auch nicht den letzten Stand der Dinge. Sie hat, als sie da auf dem Platz saß und ich zu ihr kam, wirres Zeug dahergeredet - also ich hab mir überhaupt keinen Reim bilden können. Ich hab dann versucht, mit der zuständigen Stelle in der Stadt Kontakt aufzunehmen, die haben sich auch darum gekümmert, und Ende des Liedes war, daß eine Stunde später schon Rotes Kreuz aufkreuzte und die Frau nach Weilmünster gebracht wurde.

Meine ganz persönliche Meinung: Zunächst dachte ich an einen reinen Bürokratenakt, aber die Frau hat schon irgendwo einen Schlag weg. Also, das steht zweifellos fest. Und die will sich auch nicht helfen lassen. Das hamm wirklich viele versucht. Die will sich nicht helfen lassen.“

Der Beschluß. Das Amtsgericht Weilburg begründete seinen Beschluß, Frau S. in die psychiatrische Klinik einliefern zu lassen, wie folgt: „Die angeordnete Maßnahme rechtfertigt sich aus Paragraph 9 des Hessischen Gesetzes über die Entziehung der Freiheit geisteskranker, geistesschwacher, rauschgift- oder alkoholsüchtiger Personen vom 19.5.1952. (...) Nach dem Bericht des Psychiatrischen Krankenhauses leidet die Unterzubringende an einer paranoiden Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis, die eine weitere Verwahrung im Psychiatrischen Krankenhaus erforderlich erscheinen läßt. Eine Eigengefährdung ist jederzeit zu besorgen, denn die Unterzubringende ist krankheitsuneinsichtig. Ihr steht zur Zeit keine eigene Wohnung zur Verfügung. Bei einer Entlassung besteht die begründete Gefahr, daß sich die Vorfälle, wie vor ihrer Einlieferung in das Psychiatrische Krankenhaus wiederholen würden. Dies um so mehr, als sie sich bei ihrer Krankheitsuneinsichtigkeit der notwendigen Medikamentation entziehen würde, womit sie aller Voraussicht nach wieder in kürzester Zeit in ihre paranoide Psychose verfallen würde.

Sobald eine geeignete Wohnung gefunden ist, bestehen gegen eine Entlassung keine Bedenken.“

Der Kassenzettel

Freundin: Soo, da hab ich Ihne die Zeitung mitgebracht.

Frau S.: Ach du lieber Gott, Sie haben ja eingekauft. Ich hab ja kein Geld, Frau Treisel.

Freundin: Na dann laß doch, ich hab doch bezahlt.

Frau S.: Na, das geht ja nicht so!

Freundin: Na da gebe Ses mir, wenn Se Geld habe, ich hab ja nichts verlangt.

Frau S.: Den Kassenzettel, bitte.

Freundin: Den hab ich in meim Korb, hooch, jetzt kommt ein Film, um halba fünf, und ich bin so spät droo.

Frau S.: Wer kommt?

Freundin: Die Ilse Werner, im Film.

Frau S.: Ooch die Ilse Werner im Film, ich denk Sie kriegen Besuch.

Freundin: Wo soll ich des hieleche? (Nahrungsmittel)

Frau S.: Was?

Freundin: Ich lechs in de Küch rein, auf de Eisschrank.

Frau S.: Nein! Nicht reinlegen! Stelln Ses mal auf die Erde. Ich hab ja dann keine Übersicht.

Freundin: Ich lechs auf de Eisschrank.

Frau S.: Nein, nein, ach, ich hab ja gar nichts gegessen, ich hab die ganze Nacht ja nicht geschlafen. Machen Sie jetzt keinen Unsinn da, Frau Treisel. Und einen Kassenzettel muß ich auch haben.

Freundin: Obs Ihne paßt oda net, des sin so Lebensmittl, obe auf de Eisschrank is ganz leer, da hab ichs jetzt doch rei, obs Ihne paßt oder net. Mehr wie schimpfe könne Se net.

Frau S.: Aber nein.

Freundin: Aber ja, mehr wie zur Sau könne Se mich net mache.

Frau S.: Den Käsekuchen mußte ich wegtun.

Freundin: Was?

Frau S.: Der war schimmlig.

Freundin: Tja da kann ich nix dafür, ich bring alles frisch, und Sie esse nix. Ich schlepp des heim, mach mer die Arbeit und gäbs Geld aus, und dann esse Sie noch netamal was.

Frau S.: Ich brauch mein Geld, Frau Treisel.

Freundin: Ah, sicher, jeder braucht sei Zeuch. Ma kriege nix geschenkt! Was ma kaafe, müsse ma bezahle. Und ohne Geld krieche ma nix.

Frau S.: Und den Kassenzettel brauch ich auch.

Freundin: Da is de Kassezettel, so, daß Se sehe, die Teile, wo ich mitbrocht hab.

Frau S.: Muß ich in mein leeres Portemonnaie stecken. Bei mir gibt's keine Schulden hängen lassen. Am Montag will ich von der Bank mein Geld haben, oder es kracht. Die Verkäuferin

Beatrice Sturm (Lederwarengeschäft am Stoltze-Platz): „Am Anfang fiel mir nichts auf. Als sie dann längere Zeit da saß und das Wetter schlecht wurde, haben wir sie mal angesprochen. Wir haben sie unterstützt, mit Kaffee oder weichen Brötchen. Als es so fürchterlich regnerisch und kalt wurde, brachten wir ihr einen Regenmantel und einen Regenschirm, später auch eine Decke. Es haben ja außer uns noch mehrere gemerkt, hier nebenan vom Bistro, verschiedene Leute jedenfalls. Mit dem Taxi ist sie regelmäßig rüber zum Stadtbad gefahren. Sie betonte immer, es wäre ihr ganz peinlich, wie schmutzig sie wäre. Eines Tages bekam sie von einem Rechtsanwalt Geld. Das brachte eine junge Frau vorbei, so über tausend Mark. Aber sie wollte nicht mit dem Geld dasitzen, dann gab sie mir das Geld zur Verwahrung.

Soweit ich das beurteilen kann, war sie aber ganz normal. Eigentlich verrückt, als sie mir beispielsweise das Geld gab: Ich kann ja nicht einfach das Geld von ihr nehmen, da kriege ich doch Schwierigkeiten, aber dann hat sie mir einen Zettel geschrieben, sie war ja immer am Schreiben, daß sie mir am Soundsovielten soundsoviel Mark gegeben hätte. Dann wurde sie ja ganz plötzlich hier weggeholt, und ich stand da mit ihrem Geld.

Eines Tages stand sie dann wieder hier. Da hab ich schon Panik gekriegt. Sie, ich konnte das auch nervlich nicht mehr, und ich arbeite hier, ich kann mich nicht ständig hier um irgendwas draußen kümmern. Aber durch das Ladenfenster hindurch sah ich sie ja ständig. Und dann habe ich das Geld genommen, bin zu ihr rüber und habe gesagt, ich wolle ihr das restliche Geld nun geben. Das hat sie mir auch bestätigt. Und mit einem Mal war sie wieder verschwunden.

Einmal hörte ich, sie säße am Bahnhof. Ich bin auch hingefahren, habe sie aber nicht gesehen. Das war das letzte Mal, daß ich was von ihr gehört habe.“

Der Vormund. Als ich im August 1949 durch meine Schwester befreit war, sollte meine Nichte Erika Krause Vormund für mich spielen. Und Erika sagte nur: Ich befaß mich gar nicht mit dem Schwindel, die sollen mich in Ruhe lassen. Dann hat mir das Gericht einen Anwalt als Vormund vor die Nase gesetzt. Der hat mein ganzes Geld verwaltet. Ich bin doch nicht bekloppt, ich kann doch selbst um mein Geld sorgen. Wenn einer alt ist, dann denken die, die ist im Kopf nicht mehr dicht, nee.

Die Anfrage. Ich habe mich dann an die 'Frankfurter Rundschau‘ gewandt, weil ich mir sagte, das ist jetzt die einzige Stelle, wohin ich mich wenden kann. An die Kirche? Nein, von der will ich nichts wissen. Die haben damals die Waffen gesegnet, und die Leute sind eben gefallen. Die 'Frankfurter Rundschau‘ hatte mich ja auch besucht, als ich in Weilmünster eingesperrt war. 500 Mark haben sie mir gegeben. Ich habe dem Herrn von der Zeitung gesagt: Das Geld sehe ich als Leihgabe an.

Der Angriff IV. Von Weilmünster brachten sie mich zurück nach Frankfurt in die Braubachstraße. Das ist die schrecklichste Stelle, Suchtkranke sind da untergebracht. Die haben dort alle Medizin bekommen, für draußen waren die nicht mehr fähig. Und da wollten sie mir auch Medizin aufzwingen, ich wollte nicht, aber sie haben mir Spritzen gegeben. Jeden Tag. Keine Ahnung, was da drinnen war. Ich habe Körperschäden und blähe auf wie ein Kräppel. Früher hatte ich schon einmal ein schweres Herzleiden und Wasser im Zellgewebe. So dick wie ich bin, wird wieder Wasser im Zellgewebe sein.

Ich kam zurück, aber meine ganze Wohnungseinrichtung war weg. Der Nach-Frager

Peter Krauß: Von Frau S. erfuhr ich beim Lesen in der 'FR‘. Solange sie auf der Bank saß und, wie auch immer, öffentliches Aufsehen erregte, war sie eine Story wert. Aber kaum hatte man sie in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie verschleppt, war der Fall erledigt. Ich fand das Wenige, das ich in der Zeitung über Frau S. entnehmen konnte, so widersprüchlich und unklar, gleichwohl spannend, daß ich mich auf die Suche nach der alten, scheinbar energischen Dame begab. Die ersten Zeugen, mit denen ich zu tun hatte, waren, naheliegenderweise, der Reporter, der Redakteur sowie der Leiter des Sozialamtes. Das Bild, das mir diese Herren von der Betreffenden vermittelten, war ein recht gespenstisches. Das saß.

Mir kamen die ersten Zweifel. Ich wollte ja mit Frau S., nachdem ich nun im Besitz ihrer derzeitigen Adresse war, Kontakt aufnehmen. Aber würde sie mir überhaupt aufmachen? Würde sie überhaupt mit mir reden wollen? Und wenn ja, würde sie, wie mich alle gewarnt hatten, nur wirres Zeugs von sich geben, und so weiter? Das heißt, müßte ich mich von meiner, zugegeben, links-romantischen Vorstellung von einer alten Frau, die mutig und entschlossen um ihren Wohn-Raum kämpft, verabschieden und stünde einer Verrückten gegenüber? Und sollte ich, wenn dem so wäre, artig schweigen, oder in den Chor der Mahner einstimmen: Wäre das eine Geschichte? Eine, die man druckt?

Auf gut Glück bin ich eines Tages zu ihr geradelt und habe an der Tür geschellt. Es hat sich lange nichts gerührt, aber dann hat sie mir, einem wildfremden Menschen, doch aufgemacht und mich, nicht ohne wachsames Mustern, in die Wohnung gebeten mit der Erklärung, es hätte halt gedauert mit dem Aufmachen, ich müsse verstehen, ihre Beine.

Seitdem habe ich sie mehrmals besucht. Sie spricht deutlich und sehr scharfsinnig, streckenweise ausgesprochen witzig. Was ihr zu schaffen macht, sind ihre Beine, nur mühevoll kann sie sich, auf einem Besen gestützt, zur Wohnungstür bewegen. Sie wohnt hoch droben im siebten Stock einer Altenwohnanlage. Für die Einzimmerwohnung muß Frau S. monatlich über die Hälfte ihrer Rentenbezüge aufbringen. Abzüglich Mietzins verbleiben ihr keine 400 Mark zum Leben. Seit über einem halben Jahr war sie nicht mehr unten auf der Straße, ihre Beine lassen das nicht zu. Gelegentlich schauen ihre beiden Söhne mal rein. Fast täglich bekommt sie Besuch von ihrer Freundin Frau Treisel, einer ebenfalls betagten Dame, die hie und da auch Besorgungen tätigt und regelmäßig Peter, den Hund von Frau S., zur Verrichtung des Geschäfts in die Grünanlage führt. Am meisten bekümmert Frau S. die Abgeschiedenheit von den Menschen. Der Fernseher läuft beinahe den ganzen Tag über, aber „rein“, sagt sie, gucke sie selten. Frau S. lebt gern in der Großstadt.

Das Geldinstitut. Mein großer Sohn, der ist nicht so energisch. Als er mir jetzt am Montag Geld holen sollte, hat er sich einwickeln lassen, kam ohne einen Penny zurück. Gehen Sie zum Baseler Platz, sagte die eine Hex‘ am Affentorplatz zu ihm. Dann ist er zurück, und sie haben ihm gesagt: Wir müssen erst mal die Schrift der Vollmacht Ihrer Mutter prüfen. Mit dem Quatsch können Sie mir nicht kommen, hab ich bestellen lassen, ich verlange mein Geld. Das hat von morgens acht bis mittags um zwei gedauert. Dann bekam ich erst mein weniges Geld.

Bei der Dresdner Bank hat die eine Hexe mal zu mir gesagt: Für Rentner gibt es nix. Ich wollte mehr Geld abheben, ich hatte doch dringend neues Schuhwerk nötig. Da hab ich die Tür zugeschlagen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen