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Diplom im Intercity-Zug

Niederländischen StudentInnen werden die Kredite gekürzt: Viele müssen ihre Wohnung aufgeben / Neue Studentenbewegung gegen Regelstudienzeit  ■  Von Henk Raijer

Die Aula der Universität von Leiden ist nur zur Hälfte gefüllt. In dem Moment, als Maarten van Poelgeest, der 23jährige Vorsitzende des Studentengewerkschaftsdachverbandes (LSvb) anläßlich des 25jährigen Bestehens seiner Organisation ans Pult tritt, um die Perspektiven studentischen Widerstands zu erörtern, horchen die meisten im Auditorium auf die Jubelschreie aus dem Radio in der Pförtnerloge: Marco van Basten erzielt in diesem Moment im Endspiel um die Europameisterschaft das 1:0 gegen die Sowjetunion. Die Mehrheit der zukünftigen Intelligentzija ersäuft sich an diesem Nachmittag in einem Rausch des nationalen „Wir-Gefühls“. Die romantische Anarchie der Institutsbesetzungen des Jahres '68 ist vorbei.

Studentensprecher Maarten ist ein Kommunikator modernen Stils: In Fernsehdebatten mit seinen unmittelbaren Opponenten, dem Ministerpräsidenten Lubbers und Bildungsminister Deetman, gibt er sich locker, abstrakte Visionen setzt er in verständliche Sprache um. Post-Punk -Frisur und schwarze Stiefel unterstreichen den Kontrast zum Revolutionsideologen der '68er Zeit.

„Deetmania“ - auf diese Kurzformel läßt sich der Studentenprotest des Jahres 1988 bringen. Bildungsminister Deetman ist in den Augen der etwa 500.000 niederländischen Studenten die Personifizierung des durchgeknallten bürokratischen Zentralismus. Die von ihm in den letzten drei Jahren eingeführten neuen Universitätsstrukturen haben nur Verunsicherung, Fachidiotie, Existenzangst und Chaos, produziert. Während der nationalen studentischen Aktionswoche im vergangenen November brachten die wütenden Studenten den Diener der Krone in arge Bedrängnis. Vor den Augen der Nation mußte der Minister von Spezialeinheiten der Amsterdamer Polizei aus dem Königlichen Dam-Palast freigekämpft werden, wo ihn die Studenten mehrere Stunden festgehalten hatten. Einen Tag später bekam er im südniederländischen Maastricht einen Tritt in den Unterleib; seine Flucht verhinderten mehrere Demonstranten, indem sie sich vor seinen Wagen warfen. Seither zeigte er sich nicht mehr in der Öffentlichkeit.

Themen des Studentenprotestes sind die Studienfinanzierung und das sogenannte „Harmonisierungsgesetz“. Wer noch vor wenigen Semestern in der Überzeugung sein Studium aufnahm, die staatliche Basisunterstützung von 600 Gulden (etwa 540 Mark) im Monat mit einem zinslosen Kredit ergänzen zu können, sieht sich heute, mitten im Studium, an die Banken verwiesen, mit der Aussicht auf einen Schuldenberg, den er unmittelbar in Anschluß mangels Job gar nicht zurückzuzahlen kann. Viele Studierende haben ihre Wohnung in der Stadt bereits aufgegeben und verbringen einen großen Teil ihrer Freizeit im Intercity-Zug zwischen Vorlesungssaal und Elternhaus - um Miete sowie Heiz- und Stromkosten zu sparen. Denn auf dem Höhepunkt der studentischen Aktionen vom Herbst hatte der in Argumentationsnot geratene Politiker ein kostenfreies Jahresabonnement bei der Bahn für Auszubildende erwirkt. Das neue „Harmonisierungsgesetz“ begrenzt die Studiendauer auf vier Jahre. Fachhochschulstudenten, die länger als drei Jahre für ihren Abschluß gebraucht haben, werden überhaupt nicht mehr zur Universität zugelassen.

Die äußeren Bedingungen für die akademische Ausbildung sind mittlerweile katastrophal, wissenschaftliche Neugierde, Kritikfähigkeit und Kreativität sind auf der Strecke geblieben. „Hier wird eine Generation von Studenten herangezogen, deren Bildungsstand zum ersten Mal in der Geschichte auf niedrigerem Niveau sein wird als der der vorangegangenen. Schwerpunkt unseres Protestes muß die Qualität der Ausbildung sein“, sagt Maarten van Poelgeest.

Maarten und seine Mitstreiter initiieren gerade eine Kampagne zu Inhalt und Vermittlung akademischen Wissens. „Die Studenten müssen allmählich gegen ihre Ausbildung in Schutz genommen werden“, dachte vor kurzem ein Oppositionspolitiker laut.

Die Politiker in Den Haag ignorieren indes die Entwicklung an den Universitäten. Die Regierung Lubbers scheint gewillt, den Konflikt mit dem akademischen Nachwuchs vor Gericht wie auf der Straße auszutragen. Nur - die Aktionen in Amsterdam und Maastricht und auch die militante Belagerung des Parlaments in Den Haag vom letzten Frühjahr haben dies bereits gezeigt - die Studenten der '88er Generation werden eine schärfere Gangart einlegen.

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