: „Wir wollen auch lernen!“
■ 200 SchülerInnen, Eltern und LehrerInnen von vier Bremer Sonderschulen zogen zu Fuß und in Rollstühlen vor das Rathaus, um Dampf für Stellen zu machen / 6 neue Stellen für pflegerische Betreuung
Auf Papier hört sich das immer so abstrakt an: Lehrermangel, Unterdeckung, Stundenausfall. Gestern demonstrierten die, die buchstäblich mit Leib und Seele davon betroffen sind, zu Fuß und in vielen Rollstühlen vor dem Bremer Rathaus: Rund 200 körperlich und geistig Behinderte aus vier Bremer Sonderschulen hatten zusammen mit LehrerInnen und Eltern die Reise in die City angetreten, um den gerade tagenden SenatorInnen für mehr Stellen Dampf zu machen. Ab sofort muß nämlich die Schule an der Brakkämpe für geistig Behinderte ihre SchülerInnen mittwochs vormittags für den Rest der Woche nach Hause und zurück in die ohnehin überlasteten Familien schicken. Nur noch 50 Prozent des geplanten Unterrichts kann dort abgedeckt werden. Und daß an der Louis -Segelken-Schule die Krankengymnastin ersatzlos aufhören mußte, heißt nicht einfach Verzicht auf ein bißchen Fitneß oder Sport. „Die Kinder müssen Laufen lernen und üben, das gehört zum Überleben“, erklärte engagiert Elternsprecher Nowak. Nur regelmäßige Gymnastik verhindert, daß sich Beinmuskeln verkrümmen oder die Sehnen verkürzen. An der Louis-Segelken-Schule fehlen „mindestens sechs LehrerInnen, elf ErzieherInnen, acht KrankengymnastInnen und zwei BeschäftigungstherapeutInnen“.
Die Schule Am Wasser soll ab 1. März mit zwei ABM -Erzieherinnen weniger auskommen. Die SchülerInnen, oft große schwere Jungen und Mädchen, müssen in der Schule gefüttert, gewindelt oder zur Toilette begleitet werden. „Die gehen so gern zur Schule“, erzählte Schulleiterin Almut Buer, „es darf einfach nicht dahin kommen, daß wir Kinder ab März zu Hause lassen müssen.“ Die möglicherweise
nichtverlängerte ABM-Erzie herin Imke Seydak schob die Schülerin Ariane im Rollstuhl vor sich her. „Ariane ist so schwer, daß wir sie immer zu zweit wickeln müssen - wie soll das gehen?“ Eine Lehrkraft allein kann nicht drei Schwerstbehinderte und drei weitere Kinder betreuen.
Was sich jetzt an den Schulen so dramatisch zuspitzt, ist das Ergebnis des Einstellungsstopps und der ABM-Politik. Die größ
ten Löcher konnten seit Jahren nur noch mit ABM-Verträgen gestopft werden, die jetzt aber vielfach weder verlängert noch ersetzt werden.
Ein stolzer Bildungssenator konnte gestern nach der Senatssitzung verkünden: Sechs nagelneue und unbefristete Stellen für die pflegerische Betreuung der SonderschülerInnen sind gesichert - und das außerhalb des Einstellungskorridors. Immerhin. Au
ßerdem gibt es 22,5 neue Lehrerstellen im Rahmen des Einstellungskorridors - vorgezogen schon ab Februar. 9,5 davon sollen auf die Sonderschulen verteilt werden.
Wo sich seit Jahren überhaupt nichts mehr bewegt hat, mag das ein großer Sieg sein. Für die Schulen ist es faktisch „ein Tropfen auf den heißen Stein“, wie Klaus-Peter Sochurek, Fachgruppensprecher für Sonderschulen der GEW, gegenüber der taz wertete. Schon jetzt fehlen 100 KollegInnen in den Sonderschulen - wenn man nur die pensionierten LehrerInnen ersetzen wollte, die Klassenfrequenzen niedriger als 16 SchülerInnen ansetzen wollte (Gesamtschulen haben 18) und eine Wochenstunde Arbeitszeitverkürzung einrechnete. Von Verbesserung des Unterrichts, von Stunden für Diagnostik und Therapie, von Sprachheilunterricht und Verhaltenstraining ist da noch keine Rede. „Mindestens 10 zusätzliche Vollzeitpädagogen“ hatte die Schule an der Brakkämpe gegen den „Schulnotstand“ gefordert. Elternsprecher Hans-Georg Bleyl: „Die Sonderschule ist keine Aufbewahrungsanstalt. auch diese Schule hat die Aufgabe, Kinder auf das Leben als Erwachsene vorzubereiten. Und die Schule hat eine Entlastungsfunktion für die Eltern und Familien.“ Susanne Paa
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