piwik no script img

„Zur Not wieder fluten“

Die Geschichte des Tunnels ist die Geschichte von Stammeskämpfen - der Nachfahren der Kelten diesseits und jenseits des Kanals.

Noch blicken die Angelsachsen souverän von ihrer Steilküste bei Dover herab auf die Brandung im Bewußtsein: Ihnen kann niemand. Kein Europäer diesseits des Kanals vermag jedoch einzuschätzen, was es für die Insulaner dereinst bedeuten wird, wenn die modernen Gallier, Germanen oder Römer samt Vehikel plötzlich mit einem lockeren „Bin all da“ aus der Röhre auftauchen.

Schon die Frage, seit wann überhaupt Gedanken an den Tunnel verschwendet wurden, ist ganz offenbar ein Politikum. Bereits 1802 unterbreitete der französische Ingenieur Albert Mathieu-Favier seinem Napoleon Pläne. Der auf seine Art gesamteuropäisch denkende korsische Imperator war begeistert, war doch die Insel angesichts der starken britischen Seestreitkräfte für ihn ansonsten uneinnehmbar. Für die Briten war der Gedanke natürlich lächerlich, sie würden in aller Ruhe den maulwürfigen Nachfahren von Wilhelm dem Eroberer zusehen, wenn sie die Insel im submarinen Blitzfeldzug überfallen wollten. Für die britische Geschichtsschreibung Grund genug, all das der Erwähnung nicht Wert zu finden.

Die Enzyclopaedia Britanica beginnt daher ihre Tunnel -Geschichte 1856, als der Ingenieur Thome de Gamond seinem Napoleon III. einen Tunnelplan unterbreitete. Das war zwar auch ein Franzose, er hatte jedoch gemeinsam mit den britischen Kollegen Brunel, Locke, Stephenson und Sir Hawkshaw geplant. 1872 in Paris und 1875 in London konnten Verträge der beiden Kanaltunnel-Gesellschaften unterzeichnet werden. Mutter des Erfolges bis hin zur Ratifizierung war seinerzeit Englands Königin Victoria, die aufgrund ihrer latenten Seekrankheit über jede Alternative zur Schiffsreise froh war, wenn sie ihre Nichten und Neffen in Hannover besuchen wollte.

Zwar nahmen beide Gesellschaften die bemerkenswerte Klausel in den Vertrag auf, nach der „im Interesse nationaler Sicherheit bei Notfällen der Tunnel wieder geflutet werden“ sollte, allein es half nichts: Nachdem man in der Nähe von Folkstone und bei Dover bereits jeweils eineinhalb Kilometer ins Erdreich vorgedrungen war, wurde das ganze vom Kriegsministerium untergraben.

Eine Wende deutete sich nach dem ersten Überflug des Kanals durch Louis Bleriot im Jahre 1909 an. Die Briten erkannten, daß sie sich endgültig gegen den Zugang zur Insel über eine dritte Dimension nicht mehr sperren konnten und gründeten erneut ein Unterhaus-Komitee in Sachen Tunnel. Nach und nach gesellten sich zu jenem Kommitee immerhin 400 Abgeordnete, das Interesse an einer Verbindung zum Kontinent war unüberhörbar.

Schließlich dräute der erste Weltkrieg am kontinentalen Horizont. Nichts ging mehr, die Invasophobie, (anstelle der sonst üblichen Tunnel-Klaustrophobie) war auf dem Höhepunkt und verbot jedwede Überlegung. Ein Treppenwitz der Weltgeschichte war es dann allerdings, daß ausgerechnet während beider Weltkriege britische Militärs bedauerten, daß es keinen Tunnel gab. Kriegsexperten gehen davon aus, daß mit Hilfe besserer britischer Nachschubwege der erste Weltkrieg um zwei Jahre hätte verkürzt werden können. 1940 schließlich mußten die eingekesselten britischen Fußtruppen bei ihrer Flucht aus Dünkirchen wertvolles Kriegsgerät zurücklassen, das auf die Schnelle nicht seegängig war.

Erst 1973 - die britische Fußball-Nationalmannschaft hatte inzwischen zweimal im heimischen heiligen Wembley-Stadion gegen Kontinentaleuropäer verloren - war die Angst vorm Fall der Festung Großbritannien soweit einer nüchternen Betrachtung gewichen, daß man sich wieder ernsthaft mit Tunnel-Plänen befaßte.

Ulli Kulke

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen