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Von der Sonnenuhr zur Weltzeit

Zeit ist Macht - diese Devise machten sich die deutschen Stadtväter des Mittelalters recht schnell zu eigen, nachdem im 12.Jahrhundert die ersten mechanischen Räderuhren zusammengefügt worden waren - und tatsächlich liefen. Nach und nach stattete man die Rathaustürme mit dieser neuesten Errungenschaft aus. Diejenigen Gemeinwesen, in denen es auch im 14.Jahrhundert noch nicht tickte, hatten mit der Zeit wahrhaftig nicht Schritt gehalten.

Das wundersame Zahnräderwerk brachte man nun nicht nur nach dem Sonnenstand, sondern auch nach dem Gusto der jeweiligen Stadt- oder Landesherrn zum Laufen. Die waren ab sofort auch Herren über die Stunde. Der Tag war strukturierbar, Dienstzeiten minutiös bestimmbar, die erste Stufe zur Stechuhr erklommen.

Vollends bis in die Röcke ihres Bürgerstandes hinein regierten die Magistrate, als der Nürnberger Mechanikus Peter Henlein um das Jahr 1500 die ersten Chronometer im Taschenformat konstruierte. Sie wurden fortan nach den örtlichen Turmuhren gestellt, und nunmehr galt erst recht: „Cuius Regio, eius Tempus“. Wes‘ das Land, des‘ die Zeit. Über das Heilige Römische Reich deutscher Nation war ein babylonisches Zeiten-Wirrwarr ausgebrochen.

Nicht etwa, daß zuvor die kaiserliche Einheitstageszeit gegolten hätte - keineswegs. Bis dato hatte es zwei voneinander unabhängige Zeitbegriffe gegeben: zum einen den Sonnenstand, der den Tag-Nacht-Rhythmus und die Wochen bestimmte. Zum anderen die Bestimmung der Dauer von Stunden oder anderweitiger Zeitabschnitte - etwa durch das Auslaufen einer bestimmten Menge Wassers aus einem Tiegel, das Abbrennen einer Kerzenlänge oder des Quantums heiligen Öles hoch oben über dem Altar und schließlich das Durchlaufen der berühmten Sanduhr. Beide Zeitdimensionen hatten jedoch recht wenig miteinander zu tun. Die Rechnung: ein Tag gleich soundso viele Kerzen - sie hat wohl kaum jemand angestellt. Einzig die jahrtausendealte Einrichtung der Sonnenuhr war noch geeignet, beide Zeitebenen zusammenzufassen.

Das Zeiten-Durcheinander blieb im Grunde bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts erhalten. Noch heute ist in der deutschen Sprache der Begriff „Ortszeit“ gebräuchlich.

Von der Sonne aus betrachtet war die Vielfalt der deutschen Zeiten bis 1893 sicherlich korrekter als die heutige einheitliche MEZ. Es handelte sich quasi um eine „Gleitzeit“. War es beispielsweise in Görlitz am Ufer der Neiße 12.00 Uhr mittags, so zeigte die Uhr vor dem Berliner Schloß erst 11.54, am Münchener Stachus war es 11.46 Uhr, in Stuttgart 11.37 Uhr und in Karlsruhe, Ludwigshafen sowie in der bayrischen Pfalz 11.34 Uhr - sofern alle Uhren richtig gingen.

Solange man noch mit Postkutschen unterwegs war, konnte das noch angehen. Der Fahrgast mußte vielleicht einmal am Tag die Uhr umstellen, so er eine besaß. Die industrielle Revolution hatte jedoch auch die Kommunikation revolutioniert, so daß das zeitliche Chaos nun fröhliche Urständ feierte. Die durch Raum und Zeit ratternden Züge, das um sich greifende Telegrafenwesen, das in Sekunden Hunderte von Kilometern überwand - all dies war nun zuviel. Zudem waren die verschiedenen Zeitregionen beileibe nicht so schön ordentlich in Stundenetappen unterteilt, wie das heute im interkontinentalen Verkehr üblich ist. Für die Zugfahrpläne galt zumeist die Ortszeit der Ausgangsbahnhöfe, andere Bahnen hatten ihre „Normalzeit“ - so wie auch die Telegrafenämter.

All dies war - man schrieb das Jahr 1884 - nun der anstehenden Wende zum 20.Jahrhundert nicht mehr würdig. Es blieb den Vereinigten Staaten vorbehalten, sich in Sachen Zeiteinteilung zum ersten Mal als veritable Weltmacht zu bewähren und in Washington eine Weltzeit-Konferenz auszurichten, die den Auftakt für ein einheitliches System legen sollte. Im Grundsatz war danach klar, daß die 360 Grad des Erdenrunds der Länge nach in 24 Sektoren zu je 15 Grad eingeteilt werden. Die Sonne, die von sich aus betrachtet ja stets im Zenit steht, finge danach also im Abstand von 15 Längengraden stets von neuem an, von 11.30 Uhr bis nach 12.30 Uhr zu wandern.

Am Äquator sind die Stundenzonen 1.669 Kilometer breit, an den Polen nicht mal eine Handbreit - somit kann sich die Zeit mehr Zeit für den zurückgelegten Kilometer lassen, je nördlicher oder südlicher entfernt vom Äquator die Sonne strahlt. Für die jeweiligen 15 Längengrade braucht sie, so oder so, exakt eine Stunde. Jeder Längengrad entspricht mithin genau vier Zeitminuten (daher auch die geographische Unterteilung der Längengrade in Minuten und Sekunden).

Die grundsätzliche Einigung 1884 in Washington lief also darauf hinaus, daß seitdem überall auf der Welt derselbe Minutenstand gelten und sich nur der Stundenstand unterscheiden sollte. Allein, es hielt sich niemand dran, außer den USA selbst, die - ganz Pionier - ihren eigenen Bereich ab sofort in fünf Zeitzonen aufsplitteten.

Es dauerte noch fast zehn Jahre, bis man in Mitteleuropa vertragstreu wurde und nachzog. Für das gesamte Deutsche Reich wurde 1893 die „Görlitzer Zeit“ verbindlich festgelegt, weil die Stadt etwa auf dem „15.Grad östlicher Länge“ und auch so schön mitten im Reich lag. Später hieß diese Görlitzer Zeit dann „Mitteleuropäische Zeit“ (MEZ).

Die Görlitzer Kirchturmglocken bestimmten also fortan, wann in Mitteleuropa Mittag war, aber das englische Greenwich war die Mitte der Welt. Der Null-Längengrad, der durch diesen Ort südlich von London verläuft, wurde im aufkommenden 20.Jahrhundert zunehmend zur zeitlichen Nabelschnur der Welt. Er bestimmte, daß sich logischerweise auf der anderen Seite der Erde, auf dem 180.Meridian - der Datumsgrenze das Heute vom Gestern bzw. vom Morgen scheidet, damit auch das Jahr voranschreiten kann. Der Null-Meridian bestimmt heute noch, da es den Begriff der „Greenwich Meantime“ (GMT) nicht mehr gibt, die „Weltzeit“. Nicht nur die BBC, auch alle Piloten der Welt stellen ihre Uhren nach dieser Zeit, die gegenüber der „Görlitzer Zeit“ eine Stunde nachgeht.

Niemand behaupte, daß die Briten nicht über den Schatten ihrer Tradition springen können. Nicht nur, daß die königliche Sternwarte, die stets überprüfen muß, ob der Sonnenstand noch stimmt, 1948 von Greenwich nach Hurstmonceux Castle in Südengland verlegt wurde (aber der Versuch, diesen Namen anstelle der GMT auf der ganzen Welt als Standardbegriff einzuführen, wäre denn wohl doch etwas mutig gewesen). Darüber hinaus waren es ausgerechnet die Briten, die seit dem Ersten Weltkrieg freiwillig quasi ihre ganze Insel regelmäßig vom geliebten Greenwich-Längengrad wegschoben. Die Briten haben nämlich damals als erste die Sommerzeit eingeführt. Doch während sie sich damit dem Kontinent angenähert hatten, flüchtete dieser ab 1980 seinerseits in Richtung Osten. Seit Beginn des Jahrzehnts rechnen die meisten westeuropäischen Länder zwischen März und September nach der Mitteleuropäischen Sommerzeit (MESZ), identisch mit der Osteuropäischen Zeit, damit die Sonne im Juni nicht schon um halb zehn, sondern erst um halb elf untergeht.

Damit ist Großbritannien nun wieder - winters wie sommers eine Stunde gegenüber dem Kontinent zurück, und die Briten stellen Berechnungen an, wieviel ihre Wirtschaft im Binnenmarkt verlieren wird, wenn ihre Uhren nicht spätetens ab 1.Januar 1993 nach der europäischen Einheitszeit gehen. Sollten sie nun vollends auf die Greenwich-/Hurstmonceux -/Weltzeit verzichten? Gerüchten zufolge werden sie ja demnächst auch den Rechts-Verkehr einführen.

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