: „Wo sind sie, die vernünftigen Frauen?“
■ Lady Mary Wortley Montagu (1689-1762), eine hierzulande wenig bekannte Literatin, Feministin und Aristokratin, die vor 300 Jahren geboren wurde
Wigand Lange
An Ihro Gnaden, den Bischof von Salisbury! - Hier also die Arbeit einer Woche meiner Einsamkeit. (...) Ich lege sie einzig in der Absicht vor, Ihro Gnaden zu fragen, ob ich Epictetus verstanden habe. (...) Meinem Geschlecht sind derartige Studien gewöhnlich untersagt, und die Torheit hat unsere ehrbare Lebenssphäre so sehr korrumpiert, daß man uns eher jegliche Ausschreitung solcher Art verzeihet als den geringsten Anspruch auf Lektüre oder gesunden Menschenverstand.
Man gestattet uns keine Bücher, außer solche, welche den Geist eher schwächen und verweichlichen, unsere natürlichen Unzulänglichkeiten verzeihet man uns in jeder Hinsicht und sieht es als einigermaßen kriminell an, wenn wir unseren Verstand schärfen oder uns einbilden, wir hätten einen. Es wird uns beigebracht, daß wir unseren ganzen Kunstsinn auf die Verschönerung der äußeren Gestalt verwenden, und wir dürfen diese Gewohnheit, ohne Einschränkung, aufs äußerste treiben, währenddessen unser Verstand völlig vernachlässigt und, durch den Mangel an Nachdenken, lediglich mit trivialen Dingen angefüllt wird, wie sie uns tagtäglich vor Augen kommen. Dieser vor langem ins Leben gerufene und mit Eifer aufrechterhaltene Habitus läßt es lächerlich erscheinen, vom allgemeinen Weg abzuweichen, und zwingt einen dazu, fortwährend nach Entschuldigungen zu suchen, als ob es eine kriminelle Sache sei, nicht den Toren zu spielen in Gemeinsamkeit mit anderen Damen, deren Herkunft und Muße nur dazu dienen, sie zum nutz- und wertlosesten Teil der Schöpfung zu machen.“
Höchst denkwürdige Worte: Sie klingen nach Feminismus, aufbegehrendem Emanzentum, beschwören die Gleichberechtigung der Geschlechter herauf. Anklagend-kämpferische Worte, gerichtet gegen die Tradition jahrhundertelanger Unterdrückung, Versklavung, Verdummung der Frauen. Es scheint, wir haben es mit einem programmatischen Text der Frauenbewegung zu tun. Der Text spricht dafür, und doch verhält es sich anders.
Es sind dies die naiv-natürlichen Worte einer blutjungen Frau, gerade dabei, ihrer Mädchenstube zu entspringen, 21jährig, angehende Dame von Welt, hochbegabt und schon gebildet, wissenshungrig, aber bereits - die zitierten Worte beweisen es - um die abgrundtiefen Widersprüche zwischen den Geschlechtern wissend. Es sind private Worte, geäußert in einem Brief an ihren Tutor und Mentor, den Bischof, ohne jede kämpferische Absicht, impulsiv aus der Feder hervorsprudelnd; sie sollen eigentlich nur das Verhalten des Fräuleins erklären, denn sie hat dem Bischof eine von ihr angefertigte Übersetzung des Epictetus aus dem Lateinischen mitgeschickt. Sie schrickt gleichsam vor der eigenen Gelehrsamkeit zurück, und so heißt es auch einige Zeilen weiter entschuldigend:
„Ich argumentiere nicht für die Gleichberechtigung der beiden Geschlechter.“
Die Rede ist von Mary Pierrepont, besser bekannt unter dem Namen Lady Mary Wortley Montagu; der zitierte Brief stammt aus dem Jahre 1710.
Das Leben der Lady Mary - sie wurde 1689, also vor dreihundert Jahren in England geboren - vollzog sich in exzentrischen Bahnen. Hierzulande ist sie, wenn überhaupt, durch ihre Briefe aus dem Orient bekannt, und das am häufigsten abgedruckte Porträt zeigt nicht eine traditionsbewußte englische Dame von Adel, sondern eine stolze Frau in extravagantem türkischem Kleid, mit hohem Turban, Schleier, üppigem Schmuck und Verzierungen. Es ist das Bildnis einer selbstbewußten Frau, die mutig das Ungewöhnliche, Exotische liebt und es offen zur Schau trägt. Die Zeitgenossen erkannten das Besondere dieser Frau, die einen bewunderten sie als geniale Literatin und Aufklärerin, die anderen verschrien sie als Femme fatale, weil sie sich kühn über die überkommenen Bräuche, Sitten, über Tradition und Moral ihrer Zeit hinwegsetzte. Aber auch heute noch hat ihre Biographie etwas Vorwärtsweisendes, Beispielhaftes, das keineswegs altmodisch ist.
Mit großer Selbstverständlichkeit lassen wir uns heute alle gegen Pocken schutzimpfen, Lady Mary aber war es, die vor knapp dreihundert Jahren diese Methode, die sie im Orient kennengelernt hatte, mit großem Erfolg in England einführte, und zwar gegen den Widerstand der medizinischen Zunft und trotz aller Skepsis der Bevölkerung.
Zuvorderst aber ist Lady Mary heute als brillante Briefschreiberin bekannt. An die neunhundert Briefe sind überliefert und liegen in einer dreibändigen englischen Ausgabe vor. Weniger bekannt ist das lyrische Werk. Und nahezu vergessen ist, daß die Montagu sich auch als Essayistin und Journalistin betätigte. In ihren letzten Lebensjahren schließlich wurde sie zur Chronistin ihrer Zeit, doch dies - so bekennt sie - nur für sich selbst, aus Zeitvertreib; das Geschriebene übergab sie den Flammen. Nur ein Abschnitt über König Georg den Ersten ist erhalten. Daß sie ihr jahrelang geführtes Tagebuch vernichten ließ, ist bedauernswert, kennzeichnet allerdings einen wichtigen Widerspruch im Leben der Mary Wortley Montagu:
Einerseits zählte sie - was humanistisch-klassische sowie moderne Kunst und Kultur anbelangt - zu den gebildetsten und talentiertesten Frauen ihrer Zeit, andererseits hemmte ihr aristokratischer Status (ihr Vater wurde zum ersten Herzog von Kingston ernannt) sie daran, das zu werden, wozu sie hervorragend prädestiniert war: nämlich Schriftstellerin. Adeligen war es zwar erlaubt, für die eigenen Freunde zu schreiben, es ziemte sich aber nicht, das Geschriebene zu veröffentlichen, und schon gar nicht, für Geld zu schreiben. Einer Aristokratin war die Karriere einer Schriftstellerin um das Jahr 1700 noch verstellt. Dabei schrieb die Montagu ihr ganzes Leben lang, und die besten Schriftsteller der Zeit zählten zu ihren Freunden: Alexander Pope, Joseph Addison, William Congreve, Richard Steele, Henry Fielding war ihr Cousin, mit Montesquieu, Voltaire und Rousseau war sie bekannt. Sich selbst aber gestattete sie nicht, was diese - alles Männer freilich - selbstverständlich praktizierten und was sie berühmt machte. Es ist dies die Tragik der Lady Mary Wortley Montagu, deren literarisches Werk erst nach ihrem Tode publiziert wurde und ihren Ruhm als Schriftstellerin begründete.
Die Emanzipation des weiblichen Geschlechts: Dieses Thema verfolgt die Montagu bereits in jungen Jahren, und - es wird sie ihr Leben lang begleiten. Nicht irgendein beliebiges Thema dies, sondern existentielles Anliegen, selbstverständliche Bewußtseinsform einer aufgeklärten Frau. Dabei ist Lady Mary keine Vorkämpferin der Frauenbewegung, sondern Emanzipation ist ihr etwas Persönliches, nahezu Natürliches, das sie mit ihrem eigenen Leben exemplarisch zu praktizieren sucht. Selten predigt oder agitiert sie. Mit ihrer eigenen Person setzt sie sich keck über Konventionen und Normen ihres Standes hinweg. Und, um das vorwegzunehmen: letzten Endes scheitert sie mit eben diesem individuellen Befreiungsversuch, indem sie auf die Unerbittlichkeit der Männerwelt stößt, die ihr die feminine Eigensinnigkeit nicht zu danken weiß. Ganz im Gegenteil!
Über die Männer hat Lady Mary nichts Schmeichelhaftes zu sagen. Verräter nennt sie sie in ihrem Epilog zu Mary, Königin von Schottland. Wenn sie lieben, schreibt sie, dann nur zur eigenen Ergötzung.
„Grausame Jäger sind sie, wir zitterndes Wild / Glaubt mir, teure Frauen (denn ich kenne sie wohl) / Wir sind, mein zartes Geschlecht, ein hilfloser Fall.“
Und dennoch: Über dem Leben der Lady Mary schwebte gleichsam als Motto der Satz:
„Die Natur hat uns nicht den Männern untergeordnet.“
Obschon dieser Gedanke um 1700 unerreichbare Utopie war, strebte die Montagu nichtsdestoweniger nach seiner Verwirklichung. Ihre Erziehung treibt Lady Mary schon als Kind auf eigene Faust voran, denn der Vater, zu sehr mit den Aufgaben eines Herzogs beschäftigt, schenkte der Tochter keine besondere Aufmerksamkeit. Im Selbststudium erlernte sie die lateinische Sprache und las die Klassiker im Original. Italienisch kommt hinzu, auch Französisch, die europäische Hofsprache.
Doch je mehr sich die junge Mary bildet, desto enger wird ihr das Leben im Vaterhaus in der englischen Provinz. Eine Lösung vom Elternhaus ist aber im frühen 18. Jahrhundert nur durch Heirat möglich. Und so ehelicht Mary, 23jährig, den um elf Jahre älteren Edward Wortley Montagu, mit dem sie über drei Jahre hinweg einen leidenschaftlichen Briefwechsel geführt hatte, mit unzähligen Herzensschwüren, Liebeserklärungen, aber auch Zweifeln, Eifersüchteleien und häufigen Drohungen, der Beziehung ein Ende zu setzen. Die gesamte Gefühls- und Gedankenwelt der jungen Mary findet hier Ventil und Niederschlag.
Schon bald bemerkt Lady Mary, daß die Ehe, ihre neugewonnene Freiheit, ebenso wie das Elternhaus in ein Zwangskorsett umzuschlagen droht, zumal für eine intellektuelle, selbstbewußte Frau. Edward Wortley, ein nicht ungebildeter Mann, entpuppt sich als trockener, eintöniger Gatte, der sich zuvorderst um Geld, Geschäfte und Politik kümmert, wodurch er freilich im Laufe seines Lebens unvorstellbare Summen anhäuft. Die Entfremdung zwischen den Ehepartnern nimmt hier ihren Anfang, später leben beide getrennt, ohne sich in Jahrzehnten auch nur einmal wiederzusehen. Das fade Leben auf dem Lande wurde für Lady Mary durch zwei Ereignisse beendet: die Thronbesteigung Georgs des Ersten und den Wahlsieg der Whigs, der Partei, der die Montagus zeit ihres Lebens anhingen. Im Januar 1715 zieht Lady Mary nach London und geht schon bald am Hofe Georgs ein und aus. Zwar schätzt sie den neuen König aus Hannover nicht sehr hoch ein:
„Im Privatleben hätte man ihn einen ehrlichen Dummkopf genannt; und das Schicksal, das ihn zum König machte, fügte seinem Glück nichts hinzu, schadete vielmehr seiner Ehrlichkeit und verkürzte seine Tage. (...) Er war der englischen Sprache nicht mächtig und zu alt, sie noch zu erlernen. Alle unsere Sitten und Gesetze waren ihm ein Geheimnis, das er weder zu verstehen suchte, noch war er fähig, es zu verstehen, selbst wenn er es versucht hätte. Er war ein passiver, gutmütiger Mensch und wünschte der gesamten Menschheit, daß sie Frieden genieße, vorausgesetzt daß man ihm seinerseits dasselbe gewährte.“
Das gesellschaftliche Leben in London und am Hofe nennt Lady Mary in einem Brief an den Freund Alexander Pope:
“...einen unendlichen Reigen, bei dem man immer wieder dieselben Skandale hört und dieselben Torheiten aufgeführt sieht.“
Dennoch: Lady Mary findet dort stimulierende Anregungen und interessante Bekanntschaften, und bald gewinnt sie den Ruf einer hochintelligenten, charmanten jungen Dame mit literarischen Ambitionen, mit der es sich lohnt, Umgang zu pflegen.
Ein Ereignis wie kein anderes sollte für Abwechslung, Abenteuer und Anregung im Leben der Lady Mary sorgen. Im Jahre 1716 wurde ihr Mann zum englischen Botschafter in Konstantinopel ernannt. Die Montagu nimmt begeistert an der Reise in eine Welt teil, in die sich Westeuropäer damals kaum und Frauen schon gar nicht vorwagten. Der abenteuerlichen Reise dorthin - die Montagus nahmen den Landweg durch Holland, Deutschland, Österreich und Ungarn über den Balkan - sowie dem eineinhalbjährigen Aufenthalt im ottomanischen Türkenreich verdanken wir einen faszinierenden Reisebericht in Form von Briefen an die englischen Freunde und Verwandten. Diese Briefe aus dem Orient machen Lady Mary schlagartig bekannt, sie werden von Hand zu Hand gereicht; veröffentlicht werden sie allerdings erst nach ihrem Tode.
Es gab bereits andere Beschreibungen des Türkenreiches, Lady Mary kennt und erwähnt sie in ihren Briefen. Was ihre Briefe auszeichnet, ist die Tatsache, daß sie ihre Erfahrungen und Erlebnisse bewußt aus der Sicht einer Frau schildert. Diese Perspektive sowie ihr spezifisches Interesse für das Leben der Frauen in anderen Ländern ziehen sich wie ein roter Faden durch den gesamten Reisebericht.
Zwar berichtet Lady Mary auch über soziale, politische, kulturelle Zustände, aber dem weiblichen Geschlecht gilt ihr spezielles Interesse. Im Gegensatz zu anderen Reisenden zumeist Männer - hatte Lady Mary die Chance, in engen Kontakt zu türkischen Damen zu treten, schloß gar Freundschaften, und ihr war das Privileg vergönnt, Harems und Bäder zu besuchen. Solche Erfahrungen versetzten sie in die Lage, mit alten Vorurteilen, was die Beziehung der Geschlechter angeht, aufzuräumen. Und die selbstbewußte Lady Mary nimmt kein Blatt vor den Mund. Das beweist die Reaktion einer ihrer Adressatinnen. In einem Brief an die Schwester heißt es:
„Sie ist verärgert, weil ich nicht lüge wie andere Reisende. Wahrlich, ich glaube, sie erwartet, daß ich ihr von Menschenfressern erzähle und von Menschen, denen der Kopf unter den Schultern wächst. (...) Ich habe keine Lust, das zu kopieren, was schon so oft geschrieben worden ist.“
Schon auf der Durchreise durch Sophia, damals dem ottomanischen Reich zugehörig, besucht die Montagu ein türkisches Bad. Sie beschreibt die Architektur in aller Anschaulichkeit, die Steinkuppeln, die Marmorböden und -bänke, die Springbrunnen und Wasserkanäle. Der Maler Ingres fühlte sich von diesen einfühlsamen Beschreibungen zu seinem 1862 gemalten Bild Das türkische Bad, das heute im Louvre hängt, angeregt. Staunend bezeichnet Lady Mary die im Bad versammelten türkischen Frauen als Göttinnen:
„Ich hatte meine Reisekleidung an. (...) Im Ganzen waren da, glaube ich, 200 Frauen und trotzdem nicht das verächtliche Lächeln oder spöttische Geflüster, die in unseren Gesellschaften nie fehlen, wenn jemand nicht exakt nach der Mode gekleidet ist. Sie wiederholten mir immer wieder: Uzelle, pek uzelle, was soviel heißt wie charmant, sehr charmant.
Die ersten Bänke waren mit Kissen und dicken Teppichen belegt, auf denen die Damen saßen, und auf den zweiten hinter ihnen ihre Sklaven, die sich im Rang aber nicht durch ihre Kleidung unterschieden, denn alle befanden sich in natürlichem Zustand, das heißt, in einfachem Englisch, sie waren splitternackt, keine Schönheit, keine Unvollkommenheit verborgen, aber es gab auch nicht ein lüsternes Lächeln oder eine unbescheidene Geste unter ihnen. Sie gingen und bewegten sich mit derselben majestätischen Grazie, die Milton unserer Obersten Mutter zuschreibt. Es gab viele unter ihnen, die ebenso proportioniert waren wie jene Göttinnen, welche Guidos oder Titians Bleistift gezeichnet hat, und ihre Haut fast immer leuchtend weiß, geschmückt nur von ihrem schönen Haar; so repräsentierten sie die Gestalten der Grazien. (...) Viele edle Frauen, nackt in verschiedenen Haltungen, einige konversierend, einige arbeitend, andere Kaffee oder Scherbett trinkend, und viele nachlässig auf ihren Kissen liegend, während ihre Sklaven (meist hübsche Mädchen zwischen siebzehn und achtzehn) damit beschäftigt waren, ihr Haar auf verschiedene Weisen anmutig zu flechten. Kurz, es ist das Kaffee-Haus der Frauen, wo alle Neuigkeiten der Stadt weitererzählt, Gerüchte in die Welt gesetzt werden usf. Gewöhnlich leisten sie sich dieses Vergnügen einmal die Woche und bleiben zum mindesten auf vier oder fünf Stunden.“
Jedoch gibt sich Lady Mary nicht mit der Beschreibung von Äußerlichkeiten zufrieden. Ihr eigentliches Augenmerk gilt der Stellung der Frau in der Gesellschaft. Daß sie beim Studium der orientalischen Kultur keine Mühen scheute, zeigt die Tatsache, daß sie von Anfang an die türkische Sprache studiert. In einem Brief an Alexander Pope etwa übersetzt und erläutert sie diesem Beispiele türkischer Lyrik.
Was die Moral und die Umgangsformen türkischer Frauen anbelangt, so weiß die Montagu zu erzählen:
„Dafür, daß sie keine Christen sind, begehen die türkischen Frauen nicht eine Sünde weniger. (...) Es ist ein Leichtes, zu sehen, daß sie mehr Freiheiten besitzen, als wir sie haben, indem eine Frau, welchen Ranges auch immer, nie ohne zwei Musselins auf die Straße gehen darf, einer, der ihr Gesicht verhüllt außer die Augen, und ein anderer, der ihre ganze Kopfbekleidung verdeckt und halb auf den Rücken herunterhängt; und ihre Gestalt wird gänzlich verhüllt von einem Ding, das sie Ferigee nennen, ohne das sich keine Frau, welcher Klasse sie auch angehören mag, zeigt. (...) Du magst erraten, wie wirksam sie dadurch verkleidet sind, so daß man eine vornehme Dame nicht von ihrem Sklaven zu unterscheiden vermag, und es ist auch dem eifersüchtigsten Ehemann nicht möglich, seine Frau zu erkennen, wenn er ihr begegnet, und kein Mann wagt es, eine Frau auf der Straße zu berühren oder ihr zu folgen.
Diese fortwährende Kostümierung gibt ihnen die vollständige Freiheit, ihren Neigungen zu folgen, ohne die Gefahr, entdeckt zu werden. (...) Im großen und ganzen betrachte ich die türkischen Frauen als die einzigen freien Personen in diesem Reich.“
Gegen Ende ihres Aufenthaltes in Konstantinopel wird Lady Mary diese enthusiastische Einschätzung noch vertiefen:
„Die türkischen Frauen (...) sind (vielleicht) freier als irgendwelche anderen Frauen im Universum. (...) Sie haben mindestens soviel Geist und Anstand wie die Frauen bei uns.“
Freilich, es gilt zu bedenken, daß die Montagu nicht irgendeine beliebige Frau ist, sondern privilegierte Aristokratin, die natürlich die Welt durch die Brille ihrer Klasse sieht, wenn sie auch aufgeklärt ist und über die Schranken ihres Standes hinauszusehen vermag.
Ihre letzten Wort, die sie aus Konstantinopel schreibt, muten uns heute, in ihrer Skepsis an der rationalistischen Zielstrebigkeit des abendländischen Menschen, altmodisch und modern zugleich an:
„Diese Leute sind nicht ungehobelt, wie wir sie darstellen. Es ist wahr, ihre Großartigkeit hat einen anderen Charakter als die unsrige und vielleicht einen besseren. Ich bin geneigt zu glauben, daß sie die richtige Vorstellung vom Leben haben; sie verschwenden es auf Musik, Gärten, Wein und delikates Essen, während wir uns das Gehirn mit irgendwelchen politischen Plänen zermartern oder irgendeine Wissenschaft studieren, der wir doch nicht gewachsen sind. (...) Ich wäre lieber ein reicher Effendi mit all seiner Ignoranz als Sir Isaac Newton mit all seinem Wissen.“
Die lange Rückreise nach England führt über Griechenland, Nordafrika und Italien. Hier hat Lady Mary viel Gelegenheit, in den Briefen in die Heimat ihre profunde Kenntnis der klassischen Antike mitzuteilen. Im Alter von knapp dreißig Jahren kehrt sie nach England zurück.
Es gibt zahllose Widersprüche im Leben der Lady Mary. Einerseits schuf sie sich als Autorin von Briefen, Gedichten und Essays über die Grenzen Englands hinaus einen Ruf als scharfe, oft satirische Kritikerin ihres eigenen Standes, des englischen Hofs (man denke an das Portät von Georg dem Ersten), andererseits aber genoß sie die Privilegien eben dieser Klasse und bewegte sich vornehmlich in den Zirkeln der Aristokratie. Die Radikalität ihres Geistes, ihres Fühlens und Wollens stieß immer wieder an die Schranken der Realität. Mit diesem Grundwiderspruch hatte sie ihr Leben lang zu kämpfen, er bereitete ihr Enttäuschungen, die schließlich mit dazu beitrugen, daß sie England 1739 endgültig verließ und über zwei Jahrzehnte in Südfrankreich und im nördlichen Italien eine neue Heimat suchte.
Für bleibende Prinzipientreue und Konsequenz aber spricht ein Unternehmen, das die Montagu im Jahre 1737 startet. In eigener Verantwortung gibt sie eine Zeitung heraus, von der neun Nummern erscheinen. Die Hauptartikel verfaßt sie selbst, freilich anonym, und hierin mag der Grund liegen, daß der Essay über Feminismus wohl ihre gewagteste und radikalste Äußerung zu diesem Thema ist: Ohne Wenn und Aber argumentiert sie hier für eine Gleichstellung der Geschlechter:
„Ich war immer schon ein erklärter Freund des schönen Geschlechts. (...) Ich bin dafür, daß man es mit mehr Würde behandelt; und, da ich mich als Beschützer aller Unterdrückten betrachte, werde ich es meiner besonderen Anteilnahme unterziehen. Ich erwarte, daß man mir sagt, dies sei ausgesprochener Don-Quichotismus und daß ich damit den stärksten Teil der Menschheit zum Kampf herausfordere, mit einem Papierhelm auf dem Kopfe. Ich bekenne, es ist ein Unternehmen, bei dem ich keinen beträchtlichen Erfolg voraussehen kann; (...) trotzdem werde ich weiterhin die Rolle des Moralisten spielen und werde meine Bemühungen dahingehend nutzen, den Elenden Erleichterung zukommen zu lassen und vulgäre Vorurteile zu besiegen. (...) Zu den populärsten Irrtümern zähle ich, daß man das schwache Geschlecht mit Verachtung behandelt, was einen sehr schlechten Einfluß auf sein Verhalten hat. Wie viele Weiber halten es nicht für eine ausreichende Entschuldigung, zu sagen, ich bin doch ein Weib, um damit jeglicher Torheit nachzugeben, die ihnen in den Kopf kommt! Das macht sie zu den nutzlosesten Mitgliedern der Gesellschaft. (...)
Männer, die nicht genug Verstand haben, um ihre Überlegenheit durch Argumente zu zeigen, hoffen, daß man sich ihnen aufgrund des Glaubens unterwirft, daß - da sie Männer sind - die gesamte Vernunft, die der Menschheit zugedacht war, ihnen zuteil geworden ist. Ich bin allen Ernstes anderer Meinung. Sowohl in der Unterwürfigkeit als auch im Herrschen kann sich das gleiche Maß an Geistesgröße zeigen, und manche Weiber haben ein Leben voller Härte mit ebensoviel Gelassenheit erlitten wie Cato, als er die Wüsten Afrikas durchquerte. (...) Eine Frau, die ihre Pflicht als Tochter, Gattin oder Mutter erfüllt, ruft in mir ebensoviel Hochachtung hervor wie Sokrates oder Xenophon; und viel mehr noch als ich weder Julius Caesar noch Kardinal Mazarin zollen würde, obgleich ersterer der berühmteste Unterdrücker seines Landes war und letzterer der erfolgreichste Plünderer seines Herrn.
Eine wirklich tugendhafte Frau, in dem äußersten Sinne dieses Ausdrucks, besitzt eine Tugend, die reiner ist, als sie ein Philosoph je gezeigt hat; denn sie weiß, vorausgesetzt sie hat Verstand, und ohne ihn gibt es keine Tugend, daß die Menschheit allzusehr gegen ihr Geschlecht voreingenommen ist, um ihr auch nur das geringste Maß an Anerkennung zukommen zu lassen, die doch ein so wichtiger Ansporn ist für ihre großartigen Handlungen. Mir schwebt vor, eine Reihe von Schilderungen solch verdienter Frauen vorzulegen, worinnen ich nichts sagen werde über das Feuer ihrer Augen oder die Reinheit ihrer Haut, sondern ich werde sie einer Würdigung unterziehen, wie sie einem vernünftigen empfindsamen Wesen angemessen ist: Tugenden aus freier Wahl, und nicht Schönheiten, aus Zufall. Ich bitte sie, mich nicht mißzuverstehen und zu glauben, daß ich ihre Reize unterbewerte: Ein schöner Geist, in einem schönen Körper, das gehört zu den herrlichsten Dingen, die uns die Natur gegeben hat.“
Das höchste Kompliment, das Lady Mary für ihr engagiertes Eintreten für die Sache der Frauen gezollt wurde, kam von seiten einer Frau. Nachdem sie das Manuskript der Briefe aus dem Orient gelesen hatte, verfaßte Mary Astell, die um zwanzig Jahre ältere englische Feministin, ein Vorwort zu der Briefsammlung, das einer Hymne auf das Genie der Lady Mary gleichkommt. Die ältere Verfechterin der Frauenfrage verneigt sich vor der jüngeren und legt ihr mit Freude den Lorbeer zu Füßen.
Es ist Ironie des Schicksals, gleichwohl es kein Wunder ist, daß es verschiedene Männerfiguren waren, die ein hohes Maß an Entfremdung in das Leben der Montagu brachten und mit dazu beitrugen, daß sie 50jährig ihre Heimat verließ.
Von Edward Montagu, dem leidenschaftslosen Ehemann, war bereits die Rede. Er war die erste große Hoffnung und Enttäuschung der Lady Mary. Mit Alexander Pope, dem wohl bekanntesten Dichter Englands jener Zeit, verband sie eine enge Freundschaft. Der intellektuelle Austausch schien eine Bereicherung für beide Seiten. Als Nachbarn des Örtchens Twickenham verkehrten sie viel miteinander und kamen gar ins Gerede der Londoner Gesellschaft. Pope schrieb Mary leidenschaftliche Liebesbriefe, literarisch unverblümt, ganz in der Mode der Zeit. Er, der körperlich Mißgebildete, soll ihr eines Tages einen Antrag gemacht haben, den sie lachend abwies. Genaues ist nicht bekannt. Jedenfalls schlug die Freundschaft in offenen Haß um, Pope beleidigte und bezichtigte Mary fortan in seinen Gedichten - also in aller Öffentlichkeit - der schlimmsten Dinge, die Attackierte wehrte sich, ebenfalls in Gedichten, so gut es ging, aber Pope war nun einmal der Mann und angesehener Dichterfürst, saß am längeren Hebel. Man glaubte ihm, Lady Mary war und blieb die Geschmähte.
Im Jahre 1736 kam der damals erst 24 Jahre alte Italiener Francesco Algarotti, der sich auf dem Gebiet der Naturwissenschaften und der schönen Künste einen Namen gemacht hatte, nach London. Lady Mary lernt ihn kennen, pflegt häufigen Umgang und muß sich in den charmanten Italiener vernarrt haben, was zahlreiche Briefe aus fünf Jahren bezeugen. Der Responz des egoistisch-ehrgeizigen Algarotti, der vor allem nach einer Karriere an den europäischen Höfen trachtete, ließ zu wünschen übrig. Trotzdem verließ die Montagu 1739 England, in der Hoffnung, in Italien ein Leben zusammen mit Algarotti zu führen - ein recht ungewöhnliches Verhalten für eine emanzipierte Frau! Algarotti kehrte erst 15 Jahre später nach Italien zurück.
Den Rest ihres Lebens - immerhin über 20 Jahre! verbrachte Lady Mary in Italien und Frankreich. Sie hat es wohl nie bereut, England verlassen zu haben. Doch sie hat die Enttäuschungen - man merkt es den Briefen an - nie ganz verwinden können. Das Leben in der Fremde war ein durchaus erfülltes, aber der Wirkungsradius dieser genialen, brillianten Frau war hier beschränkt und wurde zunehmend enger. Es ist wohl die Tragödie der Lady Mary Wortley Montagu, daß ihre geistigen Fähigkeiten, ihr schriftstellerisches Talent und ihr emanzipatives Bestreben immer weniger Ausdrucks- und Entfaltungsmöglichkeiten fanden. Zuviele Feinde - vornehmlich männlichen Geschlechts
-hatte sich die rebellische Frau geschaffen. Was hätte unter glücklicheren Umständen alles aus ihr werden können!
Im deutschen Sprachraum hat das Leben der Montagu bislang wenig Beachtung gefunden. Anders in anglo-amerikanischen Landen: Dort sind allein im 20. Jahrhundert vier Biographien entstanden, von denen die des Amerikaners Robert Halsband hervorzuheben ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen