: Deutsch-Südwest in Schnackenburg
■ Nostalgie für Heimatvertriebene und Heimatvertreiber
Gabriele Goettle
Im östlichen Zipfel des Wendlands, dort, wo die Elbe grau -schwarz aus dem sozialistischen Lager in den freien Westen fließt, liegt Schnackenburg, kleinste Stadt Niedersachsens. Die Zahl seiner Einwohner ist seit hundert Jahren konstant, man ist konservativ und hat Blumen auf der Fensterbank. Und im kleinen Hafen ankert das Fahrgastschiff „Fürst Bismarck“, auf dem täglich Reisegruppen Elbrundfahrten machen.
Zwei Stunden gleitet man Erster Klasse bei Kaffee und Kuchen an der Deutsch-Deutschen Grenze entlang. Vor dem weißen Bug schäumen graue Wellen auf, es geht entlang an der Schwedenschanze, wo ganz hinten am Waldrand drei Rehe stehen, von denen bekannt ist, daß sie hier in der Gegend immer noch bis zu 350bq/kg Cäsium aufweisen. Das Ufer ist unregelmäßig ausgebuchtet, auf kleinen Inseln wachsen Büsche und hinter dem hellen Sandstreifen stehen zwischen den Weiden gewaltige Eichen aus der Zeit, als dort noch Auwälder wucherten. Das DDR-seitige Ufer wird aus Gründen der Grenzkontrolle vollkommen kahl gehalten.
In einer Flußschleife liegt Gorleben. Der Name kommt den Reisenden irgendwie bekannt vor, aber nach kurzem Rätseln ist ihr Thema wieder Schwerin. Das ist vom Schiff aus freilich nicht zu sehen, ebensowenig dieses Zwischenlager, wie es mit seinem zartgelben Anstrich hinter einem begrünten Strahlenschutzwall ruht. Nicht weit davon ist eine Bohrschlammdeponie undicht, was der „Deutschen Gesellschaft zum Bau und Betrieb von Endlagern für Abfallstoffe“ (DBE) eine Strafanzeige einbrachte und die Bohrarbeiten im Endlager entsprechend hindert. Schon ist das Schiff vorbeigeglitten, frischer Kaffee wird bestellt, ein fliederfarbenes Halstuch schwebt über Bord und treibt auf den Wellen davon.
Was so silbrig schimmert am östlichen und westlichen Ufer, sind verendete und angeschwemmte Brassen, die in der Sonne trocknen. Die Ursache wird noch untersucht, aber einige Fachleute sind sich jetzt schon einig, daß es sich um ein „natürliches Brassensterben“ handelt und kein Zusammenhang besteht mit dem Fischsterben vom 12.Mai auf dem Gebiet der DDR.
Weiter im Land drinnen, noch hinter Dannenberg und nicht mehr zu sehen, liegt Lüchow. Dort ist heute „Spargelsonntag“. Die Volksbank wird ihre Einnahmen vom Glücksrad, 515 Mark, dem örtlichen Altenheim spenden. Auf die Erträge vom „Tellergeschicklichkeitslaufen“ darf sich die Jugendfeuerwehr freuen. Und auch einige der vielen Berliner Lehrer, Schriftsteller und Sozialarbeiter, die hier ihren Wochenendresthof haben, sind zum Fest gekommen, kaufen ihren Kindern ein Eis und Zuckerwatte. Zwischen ihnen und der Reisegruppe auf dem Schiff liegen Welten.
Näher stehen den Reisenden hingegen jene Westpreußen, die dort drüben in Hitzacker heute ihr 15.Heimatkreistreffen abhalten. Gestern abend gab es einen Vortrag, „Von Danzig nach Krakau“, der großen Anklang fand. Nach der Feierstunde ist für den Nachmittag ein Ausflug nach Schnackenburg vorgesehen. Für „Katy“, die unter der Telefonnummer 1328 kommentarlos in der Kreiszeitung inseriert, bleibt da kaum noch Zeit übrig.
Auf dem Deich stehen Leute und winken. Vielleicht sind das die Westpreußen, die sich bis zum Nachmittag auf den markierten Wanderwegen und asphaltierten Deichkronen etwas Bewegung verschaffen. Dann werden sie gewiß auch an dem Holzkasten vorbeikommen, in dem, vor Wind und Wetter geschützt, ein handbeschriebens Papier aushängt. In gotischen Schriftzügen steht da zu lesen:
Lieber Wanderer! Eine Bitte,
lenke möglichst Deine Schritte
nicht so weit vom Wege fort.
Mags Dir noch so schwer erscheinen
Deinen Hund halt an den Leinen!
Dir sei heilig jeder Ort,
wo in Wald und Wiesengründen
Reh und Hase Zuflucht finden.
Wo zu jeder Jahreszeit
Mutterwild mit Muttersorgen
jeden Abend, jeden Morgen,
Frieden sucht und Schweigsamkeit.
Laß Dich NIE dazu verführen
jemals Jungwild anzurühren!
Denn die kleine junge Schar
ist der Schöpferhand begegnet;
und auch Du wärst gottgesegnet
wirst Du dieses Glücks gewahr.
Dramaturgisch gesehen ist das Ende überaus geglückt. Es bohrt sich unvergeßlich in die Erinnerung hinein und führt zur Abscheu vor Jungwild.
Von all dem ahnen die Passagiere nichts. Auch auf der Heimfahrt sind die Gesichter nach Osten gewandt, wo hinter den Wachtürmen und der grauen Sichtblende des Grenzzaunes Mecklenburg liegt, Schwerin und all das, was verlorengegangen ist. Allmählich kommt Wehmut auf bei den Heimatvertriebenen, eine zittrige Frauenstimme erhebt sich, und bald singen alle mit:
Zogen einst fünf wilde Schwäne,
Schwäne leuchtend weiß und schön.
Sing, sing, was geschah
Keiner ward mehr gesehn... usf.
Um so erfreulicher, daß am westlichen Ufer die gefiederten Leidensgenossen im „Elbholz-Vogelparadies“ eine artgerechte Heimstatt gefunden haben. Selbst der so gut wie ausgestorbene Schwarzstorch wurde durch Anlegen künstlicher Biotope mit Fischbesatz über die Grenze gelockt. „Das alles ist beglückend zu wissen“, versichert der Naturschutzbund dem ahnungslosen Wandersmann in einer Broschüre.
Ein letzter Blick noch und die Vertriebenen laufen wieder in den Hafen von Schnackenburg ein. Im Hotel Kaiserhof, dem ersten Haus am Platz, ist bereits das Mittagessen für 125 Personen vorbereitet. Die Damen machen sich noch schnell etwas frisch und nehmen dann an den gedeckten Tischen Platz. Rings um an den Wänden hängen die Bilder und Urkunden sämtlicher Regimenter der heimatlichen Kinderschützengilde und Vereinsmeister.
Vorn an der Gaststube hat der Reiseleiter seinen Diplomatenkoffer aufgeklappt und wühlt in den Abrechnungsformularen. Daß alles noch an seinem Platz sein könnte, wenn nur alle einig zu Kaiser und Reich gestanden hätten, dessen wird sich der betagtere Gast hier schmerzlich bewußt.
Neben dem Eingang hängt ein Bismarckportrait von passabler Größe. Die Lithographie ist von 1887 und vom Dargestellten eigenhändig unterzeichnet. Der übrige Wandschmuck stammt aus den neunziger Jahren. Über einer blankgeputzten Signaltrompete mit roter Kordel und Quaste hängt ein steifer Tropenhelm aus ergrautem Leinen. Etwas ausgebleicht, aber immer noch ganz Hoheitszeichen, präsentiert sich die Fahne schwarz-weiß-rot. Auf Stichen und kolorierten Fotografien ist ein Raddampfer zu sehen und auch der Vorfahr in Uniform. Urkunden geben über die geleisteten Dienste Auskunft. Zwei große geschnitzte Figuren aus schwarzrotem Holz zeugen von einer anderen Auffassung des Ahnenkults. Der Herero oder Buschmann hat nicht wissen können, daß seine Arbeit sich verwandeln wird in ein Andenken an einen deutschen Großvater. Es war sicher ganz so, wie es im Brockhaus von 1906 steht: „Den Anstoß zur gegenwärtigen Kolonialpolitik haben Schwierigkeiten gegeben, welche eingeborene Stämme und fremde Nationen deutschen Handelsniederlassungen in unzivilisierten Gegenden bereitet haben. Nach längerem Zögern entschloß sich das Reich im August 1883, der Niederlassung des Bremer Kaufmannes Lüderitz seinen Schutz zu gewähren. (...) Dieser Schritt führte zur Erwerbung von Deutsch-Südwestafrika.“
Ein Dr.Göring, Vater des späteren Reichsmarschalls, konnte der Schwierigkeiten nicht Herr werden und zog Schutztruppen nach sich, die einen Großteil der Einwohner dieser unzivilisierten Gegend dem Erboden gleichmachten. Auch der Großvaterdes Kaiserhof-Wirtes bewährte sich bei dieser Aufgabe.
Sein Enkel steht bärtig, immer noch in bestem Mannesalter, an der Theke, macht die Rechnung für 25 Mittagessen plus Getränken fertig, reicht der Serviererin die bestellten Biere, wischt über den Tresen und rückt das Spendenschiffchen der Gesellschaft zur Rettung Schiffsbrüchiger gerade.
Als die Reisegesellschaft aufbricht, löst sich eine Mittsechzigerin, onduliert und mit goldenen Ringen besteckt, aus der Gruppe und sagt zum Wirt: „Entschuldigen Sie die Frage, waren die Vorfahren des Hauses vielleicht irgendwann noch in Südwest?“ Etwas einsilbig die Antwort: „Ja, der Großvater.“ Die Frau ist begeistert und fährt in vertraulichem Tonfall fort: „Sehn Sie, das dachte ich mir. Ich habs an der Fahne erkannt, wissen Sie, wir waren nämlich drüben bei unserem Sohn... und der hat jeden Morgen die Fahne gehißt. Ihr Großvater war sicherlich noch vor der Jahrhundertwende dort?“ Der Wirt poliert akribisch ein Glas, hält es gegen das Licht, blickt zerstreut auf die Frau: „Ja, das war kurz davor und so um 1904 wieder zurück, nich wahr... viel Spaß noch bei der Reise!“ Sie bedankt sich lächelnd und flötet beim Hinausgehen: „Das Essen war ganz wunderbar“, der Wirt poliert mit unverbindlichem Gesichtsausdruck und murmelt: „Das kann uns nur freun.“
Später werden die Westpreußen kommen, die Damen sich wahrscheinlich auf der Toilette frisch machen und kichern über die alte Verordnung, die dort hängt: „Auf einem deutschen Abtritt ist es strengstens untersagt, Personen zweierlei Geschlechts, z.B. Männer und Frauen, zur Verrichtung zuzulassen.“
Die Gäste werden guter Laune sein, es ist ein schöner Sonntag, und einer stammt vielleicht aus Blücher und hat eine Tochter in Windhuk, und er wird den Satz aus der reichverzierten Speisekarte vorlesen, den alle sich zu Herzen gehen lassen: „Empfehlen Sie uns weiter, damit wir hier an der Deutsch-Deutschen Grenze nicht in Vergessenheit geraten.“
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