Ein esoterisches Sprach-Evangelium

■ Gert Neumanns Prosa „Die Klandestinität der Kesselreiniger“

Sprache beginnt, wo verschwiegen wird... Die Sprache, die ich sprechen möchte, müßte verbergen“: Das Diktum Günter Eichs könnte als Motto dem neuen Prosabuch des Leipziger Schriftstellers Gert Neumann voranstehen, das sich schon mit seinem kryptischen Titel Die Klandestinität der Kesselreiniger einem vorschnellen Sinnbedürfnis verweigert. Neumann propagiert das Schweigen als eine subversive Mitteilungsform der Literatur, als ästhetischen Widerstand gegen einen Staat, der sich einen Alleinvertretungsanspruch auf Wahrheit anmaßt und jede öffentliche Widerrede unterdrückt. Die Sprache in der Klandestinität der Kesselreiniger will nicht direkt bezeichnen oder repräsentieren, sondern verhüllen und verbergen. Nur über eine „Poetik des Schweigens“ sei ein Ausweg aus dem „Ghetto der Gegenwart“ zu finden, in dem ein „verwahrloster Sozialismus“ das Denken und Sprechen ersticke. Mit seinem eigenwilligen Literaturbegriff steht Gert Neumann, Jahrgang 1943, nicht nur in seiner Generation der Christoph Hein, Monika Maron oder Wolfgang Hilbig auf einsamem Posten. Sein Schreibverfahren läßt sich auch kaum den sprachexperimentellen Zirkeln rund um den Prenzlauer Berg zuordnen, wie das etwa Egmont Hesse in seiner Anthologie Sprache & Antwort (Collection Fischer) getan hat. In Neumanns Texten spricht ein sozial isoliertes, fast schon exterritoriales Ich, das sich immer tiefer in ein privates Universum aus Literatur, Philosophie und Mystik zurückzieht. Seine literarischen „Versuche des Sprechens“, die historisch und systematisch ausgehen von der sprachkritischen Auseinandersetzung mit der „Schuld der Worte“, sind endlose rätselvolle Monologe eines unablässig reflektierenden Ich, das sich existenziell als Fremdling im „realen Sozialismus“ begreift. Die Texte selbst, und hier liegt das Dilemma des Schriftstellers Neumann, gelangen nur selten über die enigmatische Formulierung eines sprachphilosophischen Programms hinaus, dessen literarische Konkretisierung sie ständig ankündigen, ohne es indessen zu verwirklichen. In einem Gespräch mit Egmont Hesse (nachzulesen in Sprache & Antwort) nennt Neumann für dieses Programm die theoretischen Bezugsfiguren und Vorbilder. Aus Theosophie und Sprachmystik (Jacob Böhme), aus jüdischer Religionsphilosophie (Martin Buber), symbolistischer Lyrik (Stephane Mallarme) und französischem Poststrukturalismus (Gilles Deleuze) hat er die Elemente seiner eklektizistischen Poetik des Schweigens und klandestinen Sprechens zusammengefügt. Die lebensgeschichtliche Basis all dieser Sprachtheorien bildet die schockierende Erfahrung, daß Sprache im „realen Sozialismus“ jeden Wahrheitsanspruch verloren und eine Diktatur der „schwarzen Wörter“ aufgerichtet hat: „Ich habe die Wahrheit, die in einem Gespräch existiert, beobachten gelernt; aber, auch die Obszönität. Und ich habe bemerkt, daß in der Gesellschaft, in der ich aufwuchs und lebe, Gespräche stattfinden, um das Denken zu betäuben.“ Den ehrgeizigen Anspruch, eine literarische Sprache zu finden, „die nicht mit den Erscheinungen paktiert“, beschwört Neumann immer wieder mit dem geheimnisumwitterten Begriff der „Klandestinität“, den er bei Gilles Deleuze entlehnt hat. In seinem jüngsten „Versuch des Sprechens“ leitet Neumann die Praxis der Klandestinität von den Erfahrungen ab, die er als Kesselreiniger in einem evangelischen Krankenhaus gemacht hat. Der kräftezehrenden Reinigungsarbeit verleiht der „Ich-Erzähler“, beziehungsweise „Sprecher“ des Textes, der unschwer als empirisches Ich des Autors zu identifizieren ist, auratische Züge. Mehr noch: Die Knochenarbeit des Kesselreinigens, die das schreibende Ich zusammen mit einem befreundeten Arbeitskollegen, dem Bulgaren Angel, zu erledigen hat, wird ins strahlende Licht der Utopie gerückt. Kaum etwas von der Gegenwart des „verwahrlosten Sozialismus“ dringt herein in die lärmumtoste Abgeschiedenheit der Kesselreiniger. Der Ort des Schreibens, der Heizungskeller des Krankenhauses, wird zu einer Stätte poetischer Konspiration, zum geheimen Laboratorium klandestiner Reflexionen. Mit philosophischem Endlosgegrübel promoviert das schreibende Ich das gemeinsame Kesselreinigen zur Praxis der Klandestinität. Klandestinität als Geheimsprache: Im verzweifelten Versuch, alle vertrauten Muster von Beschreibung und Benennung aufzulösen, um nicht der Lüge der herrschenden Sprachordnung anheimzufallen, baut Neumann an einem abgründigen Satzlabyrinth. Einmal in die verschlungenen Windungen und Abstraktionswüsten dieser Prosa geraten, sucht man oft vergeblich nach orientierenden Zeichen: „Angel und ich hatten nämlich beschlossen, den Auftrag zum Kesselreinigen anzunehmen; und den möglichen Weg der Kündigung nicht zu wählen, obwohl wir ihn erwogen hatten: sondern während des Kesselreinigens diesen Text zu schreiben und ihn sich schreiben zu lassen, so daß der schwierige Raum, indem das Abwesende lebt, in die Gegenwart eröffnet ist und war, den es auf mehrfache Weise, musikalisch, möchte ich sagen, zu füllen galt und mit diesem Text zu füllen gilt -: der sich also aus Notizen und Erinnerungen und der durch das Schreiben auf den Kesseln und in den Räumen um die Kessel als möglich erhaltenen Sprache... heute am Schreibtisch schreibt, weil das mit dem Kesselreinigen verbundene Prinzip, vom Abwesenden sprechen zu dürfen, in der herrschenden Diskursmacht, die die Wirklichkeit der Zensur und der etablierten Opposition war, ehe Angel und mich der Auftrag zum Kesselreinigen erreichte -, erlaubt, auch das Verschollene in jenem Text, in den ich zurückgekehrt gewesen war, um es zu suchen: zu suchen.“ Auf fast zweihundert Seiten versucht sich das klandestin sprechende Ich mit solchen Satzungetümen zwischen der „herrschenden Diskursmacht“ der Zensur und der beschränkten, weil negativ fixierten Sprache der „etablierten Opposition“ hindurch zu lavieren. Und so wälzt sich die zähe Textmasse fort, befrachtet mit kopfschweren Postulaten. Immer wieder sind abstrakte Substantive als positive oder negative Pole des klandestinen Sprechens auszumachen. Den positiv konnotierten Schlüsselworten „Gespräch“, „Dialog“, „Abwesenheit“, „Schweigen“ oder „Klandestinität“ stehen als negative Fixpunkte die Vokabeln „Observation“, „Observanz“, „Ideologie“, „Macht“ und „Realität“ gegenüber. Wie sein Vorbild Mallarme will Gert Neumann alles aus seinem Text entfernen, „was zu sehr als Stoff sich zeigt“. Zu diesem Stoff gehört zum Beispiel im ersten Kapitel des Buches die Begegnung des schreibenden Ich mit seinem Sohn, der die realsozialistische Sprache der Gewalt am eigenen Leib erfahren hat. Das schreibende Ich rekonstruiert mit Hilfe von Briefzitaten und imaginierten Gesprächen die willkürliche Verhaftung seines Sohnes und veranschaulicht in einer gespenstischen Szene die Fortdauer polizeilicher Observation nach der Entlassung aus dem Gefängnis. Auf diese deprimierende Wirklichkeit des „realen Sozialismus“ antwortet in den zwei folgenden Abschnitten die klandestine Reflexion über Sprache und Schweigen, Poesie und Macht, Wahrheit und Wirklichkeit. Nach einem Zwischenkapitel, in dem das schreibende Ich unter dem Eindruck einer Reise in den Westen seine Reflexion über die „realsozialistische Verfehlung der Dinge“ fortsetzt, schließt der Text mit einer Art Requiem auf den Tod des Arbeitskollegen Angel. In diesem Abschnitt verläßt Neumann einige Male die verschlungenen Pfade klandestinen Denkens und Sprechens und greift auf die Mittel konventionellen Erzählens zurück. Über weite Strecken des Buches verirrt sich Neumanns emphatischer „Versuch des Sprechens“ jedoch so tief in aporetische Selbstreflexionen und unaufhebbare Formulierungsskrupel, daß der dabei entstehende Textdschungel auch die sprachkritischen Intentionen des Autors verschluckt. Jene subversive Geheimsprache, die dem „Terror der Beschreibungen“ und der Macht der „schwarzen Wörter“ widerstehen soll, gehorcht selbst der Diktatur hybridester Abstraktionen. Die Prätention auf Klandestinität verbürgt noch keine poetisch konspirative Gegenwelt zum grauen Sprach-Alltag im „realen Sozialismus“. Neumanns sprachkritischer Purismus steht sich meistens selbst im Weg

-denn er motiviert und blockiert gleichzeitig den Fortgang des Textes. Das klandestine Denken und Sprechen will alle existierenden Sprachsysteme subversiv unterlaufen - und muß doch zu sprachlichen Konventionen Zuflucht nehmen. Der Traum von einer reinen, ursprünglichen Poesie und einer nichtinstrumentellen, magischen Sprache, die auch die Sphäre des Wortlosen zu erschließen vermag: Dieser Traum, den Sprachmystik, Romantik und jüdische Sprachphilosophie immer wieder geträumt haben, lebt fort in Gert Neumanns Poetik der Klandestinität. Aber diese Klandestinität offenbart sich als prätentiöse Geheimsprache ohne evokative Kraft. Gert Neumanns Prosa bleibt stecken in einem klandestinen „Rotwelsch“, in dem die Sätze in endlosen Schleifen um sich selber kreisen.

Michael Braun

Gert Neumann, Die Klandestinität der Kesselreiniger. Ein Versuch des Sprechens; S.Fischer Verlag, Frankfurt 1989, 192Seiten, 29,80 Mark.