: Die Planbarkeit des Niedergangs
■ Von Jochen Noth
Als der 1958 von Mao Zedong ausgerufene Große Sprung nach vorn schon nach einem Jahr zu Hungerkatastrophen und wirtschaftlichem Zusammenbruch führte, verteidigte er sich, er sei Revolutionär und nicht Ökonom: „Vor dem August des letzten Jahres habe ich meine Hauptenergie auf Aufgaben der Revolution konzentriert, Fragen des (wirtschaftlichen) Aufbaus gegenüber bin ich absoluter Laie.“, Wenn man bedenkt, daß Lenin die Politik als konzentrierten Ausdruck der Ökonomie definiert hat, so war dies ein erstaunliches Bekenntnis aus dem Munde des größten Marxisten-Leninisten seiner Zeit.
Auch Deng Xiaoping werden bedeutende Leistungen bei der Weiterentwicklung des Marxismus zugeschrieben. Als sein Hauptverdienst gilt allgemein, China mit der Wirtschaftsreform aus der Sackgasse der mao-stalinistischen Planwirtschaft geführt zu haben. Wie verträgt sich damit, wenn er sagt: „Auf wirtschaftlichem Gebiet bin ich ein Laie. Ich habe dazu ein paar Bemerkungen gemacht, aber alle aus politischer Sicht. Zum Beispiel habe ich die Öffnung nach außen der chinesischen Wirtschaftspolitik vorgeschlagen. Aber ich weiß wirklich kaum etwas über die Details und Besonderheiten und ihre Umsetzung.“
Koketterie? Wohl kaum, denn seine Aussagen zur Wirtschaftspolitik beschränken sich auf allgemeine, griffige Parolen: Das Pro-Kopf-Einkommen soll sich bis zum Jahr 2000 vervierfachen. Die Ausführung wird den Experten überlassen, die Deng auch über die Klinge springen lassen kann, wenn's nicht klappt.
Imperialer Sozialismus
Der Streit darüber, ob Mao und Deng sich zu Recht Marxisten nennen, ist an sich eine ziemlich uninteressante akademische Debatte. Interessant für die Beurteilung der Entwicklungen zwischen Elbe und Pazifik ist aber, daß die chinesischen KP mit dem Marxismus-Leninismus, wie er sich in der UdSSR entwickelte, eine Strategie übernahmen, die es ihnen ermöglichte, die Macht im zerfallenen Reich der Mitte zu erobern. Sie vermochten auch, dem Land eine neue, nach außen, vor allem aber nach innen machtvolle Staatlichkeit zu geben und eine Wirtschaftsentwicklung einzuleiten, die als Basis für den Wiederaufstieg zu einer Weltmacht gelten kann, wie hoch der Preis dafür auch immer ist.
In der Debatte im Anschluß an das Junimassaker ist diese Gesellschaftsformation „Reichssozialismus“ genannt worden. Der eigentliche Inhalt der sozialistischen Revolutionen mit den Zentren Peking und Moskau soll demnach nicht die Emanzipation der Gesellschaften und Individuen von Ausbeutung und Unterdrückung sein. Soziale Revolution, Sturz der alten herrschenden Klassen und politischen Systeme, Vergesellschaftung oder Verstaatlichung der Produktionsmittel, zentrale Planwirtschaft und Einparteienherrschaft, all diese Merkmale des real existierenden Sozialismus sind dem einen Ziel untergeordnet, die vom Untergang bedrohten Großreiche wiederherzustellen und zu erhalten. Denn die alten Despotien, die diese Reiche über Jahrhunderte, ja Jahrtausende zusammengeraubt und beherrscht haben, waren aufgrund ihrer sozialen und politischen Zusammensetzung nicht mehr in der Lage, die Energien zu mobilisieren, die zur Modernisierung und zur Abwehr modern gerüsteter und organisierter Aggressoren notwendig waren.
Der Begriff Reichssozialismus hat den Vorteil, die Rücksichtslosigkeit gegenüber der eigenen gesellschaftlichen Basis, vor allem den Bauern, die diese neuen Gesellschaften kennzeichnet, nachdem sie sich einmal etabliert hatten, nicht als bedauerliche Abweichung von emanzipativen Idealen darzustellen. Der Zweck der imperialen Einheit und Stärke heiligte seit je jedes Mittel.
Geplante Katastrophen
Die Wirtschaftskatastrophen in der Geschichte der Volksrepublik sind nicht dem blinden Wirken der Marktgesetze zu verdanken, sondern durch bewußte Planentscheidungen zielstrebig herbeigeführt worden. Wer behauptet da, die Planwirtschaft würde nicht funktionieren?
Die chinesische Statistik mißt das wirtschaftliche Wachstum mit der Kategorie Bruttoproduktionswert (BPW), die jede Entwicklung schönt, weil in ihr die in allen Bereichen der Gesellschaft erzeugten Werte einfach addiert werden ohne Rücksicht darauf, ob sie bei der Verarbeitung in weitere Produkte eingehen. Aber auch mit dieser Kategorie läßt sich auf einen Blick erkennen, daß das Wirtschaftswachstum in China heftigen Schwankungen unterlag, die davon bestimmt wurden, welche politische Linie an der Macht war.
Jedes Mal, wenn Mao seine extremistische Linie der radikalen Kollektivierung und der forcierten Schwerindustrialisierung durchsetzte, stagnierte die wirtschaftliche Entwicklung oder ging sogar, selbst in der beschönigenden Kategorie Bruttoproduktionswert gemessen, absolut zurück: Während des Großen Sprungs Anfang der vierziger Jahre und in der Kulturrevolution bis einschließlich der Ära des Mao-Nachfolgers Hua Guofeng sank der BPW um fast 40 Prozent.
Nur in drei längeren Zeiträumen der Geschichte der VR China ist wirkliches Wachstum des gesellschaftlichen Reichtums zu verzeichnen: in der Zeit des ersten Fünfjahresplans, der Phase der sowjetischen Wirtschaftshilfe, die von den Ideen des wirtschaftlichen Chefideologen der Deng-Reformen Chen Yun geprägt war, in der Zeit zwischen 1963 und 1966, in der mit einer Politik ähnlich der seit 1980 versucht wurde, die Schäden des Großen Sprungs zu beseitigen, und seit dem Beginn der Dengschen Reformen in den achtziger Jahren.
Die großen politischen Kämpfe der letzten 30 Jahre in China fallen alle zeitlich mit dem Beginn neuer Fünfjahrespläne zusammen: 1958 - Großer Sprung, 1966 - Kulturrevolution, 1971 - Sturz und Tod Lin Biaos, 1976 - Sturz der Viererbande. Mao und seine Freunde auf der einen Seite, Deng Xiaoping und seine Fraktion auf der anderen suchten in diesen Kampagnen ihren Weg zum wirtschaftlichen Aufstieg des Reiches durchzusetzen.
Mao, in vielerlei Hinsicht ein treuer Schüler Stalins, erzwang, anfänglich gestützt auf sein nationalrevolutionäres Prestige, später mit Geheimdiensten und Armee, immer wieder, daß bis zu 40 Prozent des jährlichen Nationaleinkommens in die Industrie und vor allem in die Schwerindustrie investiert wurden. Diese enorme Anstrengung wurde im Entwicklungsland China „kommunistisch“ organisiert: Unterdrückung jeglicher Produktion, die nicht vom Staatsplan erfaßt war, Beschneidung und Kontrolle jeglichen Konsums und aller nicht produktiven Lebensbereiche. Die Parole dazu: „Zehn Jahre Mühsal für zehntausend Jahre Glückseligkeit.“ (Und das hat irgendjemand geglaubt? d.S.)
Wenn dann der Rückgang der Agrarproduktion zu Hungerkrisen führte, und die Wirtschaftsstruktur unter dem Gewicht gigantischer Investitionsruinen zusammenzubrechen drohte, kehrten die zuvor als Machthaber auf dem kapitalistischen Weg verjagten Wirtschaftsfachleute und Beamten aus Verbannung und Gefängnissen zurück. Sie drosselten die Investitionen und lockerten die Fesseln, die der Staatsplans der ländlichen Wirtschaft angelegt hatte. Da die maoistische Linke dann aber jede Besserung der wirtschaftlichen Lage wieder zum Anlaß nahm, erneut überhöhte Akkumulation zu erzwingen, schwankte die chinesische Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik immer rascher hin und her. In den siebziger Jahren jährlich, ja monatlich, und jeder politische Schwenk läßt sich am heftigen Ausschlagen der wirtschaftlichen Entwicklungskurven ablesen.
Am Ende
Dengsche „Vernunft“
Noch vor wenigen Monaten konnte sich die Welt nicht genug darüber begeistern, wie sich China verändert habe, seitdem Mao, der närrische Yu Gong, tot ist, der Berge versetzen, vielmehr von seinen Kindern und Enkeln mit bloßen Händen abtragen ließ. Seit Juni wissen wir, welcher Art die Vernunft ist, die an die Stelle dieser Narrheit getreten ist.
Deng Xiaoping ist das Gegenteil eines demokratiefreudigen Reformers, er ist ein konservativer Beamter, der mit seinen Reformen die legitime Ordnung wiederherstellen wollte, die Mao mit seinen verrückten Kampagnen gefährdet hatte. Chen Yun, der ökonomische Vordenker der Deng-Fraktion, jetzt vielfach als einer der Hauptbetreiber des Junimassakers benannt, setzte Maos „ununterbrochener Revolution“ schon in den fünfziger Jahren die Theorie des „ausgeglichenen Wachstums“ entgegen. Dieses Konzept beruht nicht auf der Massenmobilisierung durch den charismatischen Despoten, sondern auf dem traditionellen Ideal der Herrschaft durch Ausgleich der Gegensätze. Die Vorstellung, daß soziale Harmonie und politische Stabilität des Reiches am besten gewährleistet sind, wenn die materielle Wohlfahrt des Volkes gesichert ist, extreme Einkommensunterschiede vermieden werden und sich die verschiedenen Abteilungen der Wirtschaft gleichmäßig entwickeln, läßt auch Elemente der Marktwirtschaft zu. Solange jedenfalls, wie sie unter politischer Kontrolle bleiben und ausgeglichenes Wachstum besser ermöglichen als rigide Planvorgaben.
Deng verfolgt mit seiner dynastischen Reform die gleichen Ziele wie die feudalen Herrscher: nämlich der Herrscherin KPCh die Macht und dem Reich seinen dominierenden Platz in Asien und der Welt zu sichern. Nie war daher in Dengs und Chen Yuns Konzept vorgesehen, die Plankontrolle der Partei über die Wirtschaft abzuschaffen oder die politische Macht demokratischer Kontrolle auszusetzen oder sie gar zu teilen. Wenn die Marktwirtschaft beginnt, das „ausgeglichene Wachstum“ und die soziale Harmonie unter der wohlwollenden Diktatur der Partei zu gefährden, muß es eben wieder abgeschafft werden. Es ist kein Zufall, daß erneut kurz vor Beginn eines neuen Fünfjahresplans (1990) in der chinesischen Führung ein Kampf um die Ausrichtung der Politik entbrannt ist, in dem die Befürworter weiterer Reformen um Zhao Ziyang eine Niederlage erlitten haben.
Wenn die Debatte um Wirtschafts- und politische Reform zum Anlaß genommen wird, die legitime Herrschaft der Partei selbst in Frage zu stellen, müssen die Unbotmäßigen zum Schweigen gebracht werden. Einige tausend Tote sind im Vergleich zu früheren Plandebatten recht wenig und müßten in den Augen der Machthaber - reichen, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen.
Doch hier irren sich die uralten Herren - hoffentlich. Zu Maos Zeiten konnte die Existenz einer scheinbar modernen, reformerischen Fraktion noch verdecken, daß technologische und gesellschaftliche Modernisierung mit einer derart archaischen politischen Struktur, wie sie der chinesische Reichssozialismus darstellt, unvereinbar ist. Nachdem nun die greisen Reichsreformer selbst mit ihrem Reformlatein am Ende sind, wird der Widerspruch zur lebendigen Gesellschaft immer größer, ihre Herrschaft immer hohler. Dennoch kann es noch Jahre dauern, bis sie zusammenbricht.
Jochen Noth lebte von 1979 bis 1988 in China und ist heute Consultant in Berlin
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