piwik no script img

Das Lindenstraßensyndrom

■ Geburtswehen und unaufhaltsamer Erfolg einer deutschen Familienserie / Von Eva Schweitzer

Den einen ist sie Balsam für die empfindsame Familienseele, den anderen gilt sie als typisch deutsches miefig-braves Fernsehgeplärre: „Die Lindenstraße“. Mit 12 bis 15 Millionen Zuschauern hat sich die Monsterserie zum ertragreichen ARD -Dauerbrenner gemausert, der Macher wie Kritiker in Staunen versetzt. Am Sonntag um 18.40 Uhr läuft die 200ste Folge. Ein Ende ist nicht in Sicht.

„Ich glaube, die Dominique ist magersüchtig, weil die von ihrem Vater als Kind sexuell mißbraucht wurde“, sagt Thomas. Thomas gehört zu den zehn bis fünfzehn Millionen Zuschauern, die sich allwöchentlich die beliebteste deutsche Familienserie reinziehen. Es ist wie eine Sucht. Am nächsten Sonntag gibt's die 200ste Dröhnung. Thomas, taz-Redakteur und engagierter Linker, läßt sich die Sendung gar auf Video aufzeichnen, wenn er Sonntagsdienst hat. Um die ineinander verwobenen Schicksale der unglücklichen Dominique Mourrait, der tränenreichen Anna Ziegler, des Oberautonomen Franz -Joseph „Zorro“ Pichelsteiner und 50 weiterer Menschen in den Pseudo-Münchner Mietshäusern bangt so mancher: der Schöneberger Szeneautor Max Goldt ebenso wie die Leserinnenschaft des 'Goldenen Blatts‘ - Die einen verkünden es offen, die anderen tun es eher verschämt.

Warum sie denn Woche für Woche am Fernseher klebe, frage ich meine Freundin Henny. „Weil mich das an meine eigene Familie erinnert, vor allem Familie Beimer“, meint sie. Stimmt: Die Dialoge zwischen Benni Beimer und seinen Eltern können wir beide synchron mitsprechen („Kind, du mußt dir doch überlegen, was aus deiner Zukunft wird, du kannst dich doch nicht einfach so treiben lassen...“). „Und weil einige Männer so gut aussehen, Vasily Sarikaris zum Beispiel“, fügt sie hinzu. Das könne doch nicht alles sein. Ob es da nicht unterbewußte, tiefenpsychologische... - „Weißt du, ich sehe unheimlich gerne andere Leute leiden, wie die Dominique oder Berta Griese, das bringt meine Lebensgeister in Wallung“, gesteht Henny dann. Die Berta könne von ihr aus ruhig Alkoholikerin werden, das zeichne sich ja schon ab. „Am liebsten ist mir eine handfeste Keilerei oder eine Vergewaltigung. So penetrant glückliche Familien wie die Schildknechts könnte man ruhig sterben lassen“, meint Henny. Das finden Thomas und ich auch. Vor allem, seit sich Tanja Schildknecht mit den Fragen der ewigen Wahrheit wegen ihres Zeitungspraktikums beschäftigt, geht sie uns zunehmend auf den Keks. Ob sie nicht das Gefühl habe, ihr werde ein Sedativum verabreicht, um sie von ihren eigenen Problemen abzulenken? „Ach, weißt du, den bewaffneten Kampf habe ich so ziemlich in die Ecke gestellt. Mein Widerstand beschränkt sich darauf, daß ich keine Trauben aus Südafrika kaufe und die taz lese. Wenn die Lindenstraße nicht wäre, würde ich eben Sportschau gucken.“

Die Struktur der Lindenstraße ist geradezu darauf angelegt, süchtig zu machen. In jeder Folge laufen drei Handlungsfäden parallel und werden in Takes von wenigen Minuten gegeneinandergeschnitten. Bis sich die jeweilige Verwicklung auflöst, vergehen oft Wochen, und da ist bei einem anderen Handlungsfaden die Verwicklung gerade auf dem Höhepunkt, so daß man den dann weiterverfolgen muß. (Ach was, ich gucke alle paar Wochen mal rein, und wenn ich den Faden verloren habe, frag‘ ich einfach mal bei den Kollegen nach! d.S.) So bin ich hereingeraten: Ich wollte eigentlich nur wissen, was aus der - inzwischen toten - Henni Schildknecht wird. Den Schluß krönt, gemäß dem Vorbild von Dallas und anderen Soap-operas, ein Cliff-hanger, eine besonders spannende Szene. Die morgige 200ste Folge endet damit, hier sei es verraten, daß Hans Beimer erfährt, daß Anna Ziegler den Vater ihres Sohnes Tom bisher nicht offiziell angegeben hat. Erschrecken macht sich auf seinem Gesicht breit ... Musik! (Und noch ein paar Neuigkeiten: Robert Engel taucht wieder auf, und Dominique bekommt eine eigene Wohnung.) (Danke, jetzt kann ich mir die morgige Ausgabe auch sparen! d.S.)

Dabei grenzen sich die Lindenstraßenmacher, trotz ähnlicher Machart, aufs heftigste von Serien wie Dallas ab. Man mache eine Sendung mit und für „normale Menschen und nicht irgendwelchen reichen Leuten“, erklärt die freundliche Pressefrau auf dem Drehgelände in Bocklemünd beim Kölner WDR. Dort hat sich das Freiluftstudio zum Touristenmagneten gemausert. Jedes Wochenende zwischen Mai und September ist Besichtigungstag, 7- bis 8.000 Besucher aus ganz Deutschland strömen dorthin, lassen sich von jobbenden Studenten die „Lindenstraße“ auf und ab führen, verdrehen sich den Hals, um einen Blick auf Henni Schildknechts Grabstein zu werfen, betasten Enrico Pavarottis Pizzeria, fotografieren Doktor Dresslers Praxisschild, bekommen ein Autogramm von dem einen oder anderen Darsteller und können sich zum Schluß in Beimers Küche ablichten lassen - allerdings nicht in der wirklichen, sondern per Videomontage, denn die Sandsteinkulissen sind hohl. Die Innenaufnahmen werden in der unzugänglichen Halle nebenan gedreht.

Und wo kommt der Erfolg der Serie her? Warum gehen Woche für Woche Millionen Menschen diesem völlig durchsichtig sozialpädagogischen Konzept auf den Leim? Warum erscheinen Bücher, Aufsätze, Artikel zur Lindenstraße, am 24.November, zum ersten Todestag von Benno Zimmermann, gar eine Schallplatte unter dem Titel: Wir warten auf die Lindenstraße - Deutschlands Popelite zur besten Fernsehserie der Welt? Wem gefällt diese Mixtur aus einer Durchschnittsfamilie mit bockigen Kindern, einer Wohngemeinschaft, einem schwulen Pärchen, einem prügelnden Ehemann, einem Aids-Fall, einer ungewollt Schwangeren, einem Behinderten, einer Magersüchtigen, einem fremdgehenden Ehemann, einem ausländerfeindlichen REP-Wähler, einem verhaltensgestörten Adoptivkind, mit der sich so offensichtlich ganz Deutschland identifizieren soll? Es fehlt nur noch eine Ausländerfamilie, aber die kommt „bestimmt noch“, sagt Gelegenheitsgucker Klaus Helge. Hören wir noch einmal meine Freundin Henny: „Mir gefällt dieses Kleinbürgerliche, daß das Menschen sind wie du und ich mit Problemen wie du und ich, Untreue, Schwangerschaft, Aids, halt etwas komprimierter dargestellt.“ Aber ist das wirklich die Realität? - „Schau her, in der Wohnung neben mir läuft seit zwei Tagen ununterbrochen das Badewasser, da werde ich jetzt wohl den Vermieter holen, daß er die aufbrechen läßt. Und da finden wir wahrscheinlich eine Wasserleiche. Das ist dann der Moment, wo in der Lindenstraße die Schlußmelodie ertönt.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen