: Eine Rolle rückwärts
■ Nach der Wahl Claudio Abbados zum Karajan-Nachfolger herrscht Katerstimmung
Premierenfeier der Deutschen Oper am Sonntagabend: Mit Stolz in der Stimme verkündet Berlins Kultursenatorin Anke Martiny, neben Sinopoli als neuem Opern-Chefdirigenten gebe es demnächst einen zweiten Italiener in der Stadt. Und bei der Nennung Abbados als frischgewählten Karajan-Nachfolger jubelt die versammelte Journaille. Die Feuilletons sind begeistert: vom „mutigen Schritt“ zur Erneuerung ist die Rede, und die 'FAZ‘ bricht eine Lanze fürs Junge und Europäische. Zu Recht: Gewiß ist Abbado eine hoffnungsvolle Alternative zum Zirkus Karajani. Dem römischen 'Messagero‘ ist zwar bange vorm zukünftig mächtigsten Dirigenten der Welt, ist er doch gleichzeitig Chef der Wiener Staatsoper, aber trotzdem: Alle mögen Abbado - er gilt als „nice guy“, allerdings auch gegenüber willensstarken Direktoren.
'Le Monde‘ spekuliert schon über die internationalen Folgen: Abbado versteht sich glänzend mit dem Finanzgewaltigen Hans Landesmann von den Salzburger Festspielen. Bisher lag es an Karajan, daß er dort nicht soviel dirigieren konnte, wie er wollte. Und die Wirtschaftsexperten schließen Wetten ab, wer die Einspielergebnisse des neuen Duos für sich wird verbuchen können: Sony oder die Deutsche Grammophon. Abbado ist bei der „Marke der Weltstars“ zwar unter Vertrag, aber sein Karriere-Förderer Günther Breest, einer der mächtigsten der Branche, macht inzwischen für Sony Geschäfte. Mutmaßungen, die alle das eine voraussetzen: Abbados Zusage, die Frau Martiny und der Orchestervorstand am Sonntag bereits verkündeten.
Montagnachmittag dann das Dementi, fernmündlich aus Wien: endgültig entschieden habe er sich keineswegs, winkt der Dirigent ab. Martinys kleinlaute Reaktion folgt auf dem Fuße: Am Mittwoch habe sie ein Rendezvous in Wien, und ansonsten hülle sie sich ab sofort in Schweigen, um „die Verhandlungen nicht zu stören“. Dafür dürfte es längst zu spät sein. Statt dem vielbeschäftigten Mann in Ruhe mehr als nur Stippvisiten in Berlin (bei nicht allzuhoher Gage) abzutrotzen, statt, nach der vorzeitigen und von Peinlichkeiten wie Ungeheuerlichkeiten begleiteten Kündigung des Intendanten Schäfer erst einmal zu klären, wer im Zirkus Ex-Karajani in Zukunft was zu bestimmen hat, haben Orchester und Senat sich freiwillig in die denkbar schlechteste Verhandlungsposition begeben. Abbado kann hoch pokern, Berlin ist in Zugzwang. Hörigkeit gegenüber profitträchtigen Top-Stars hat Tradition an der Spree. Wenn Abbado dies ausnutzen sollte, ist Anke Martiny ein Platz in der Stadtchronik sicher: als Berlins profilierteste Laienpolitikerin.
Christiane Peitz
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