: Krenz setzt auf Demokratie
■ Überraschende Fernsehrede des Generalsekretärs / Konkrete Schritte für politische Reformen angekündigt: Verfassungsgericht, Wirtschaftreform, Zivildienst, Reform des Bildungswesen / Rücktritte im Politbüro / Heute Massendemonstration in Ost-Berlin
Berlin (taz) - In einer am Freitagabend überraschend im DDR -Fernsehen und Rundfunk gleichzeitig ausgestrahlten Rede an alle Bürger und SED-Mitglieder berichtete der DDR -Staatsratsvorsitzende Egon Krenz von einer Tagung des SED -Politibüros am Tage, bei der umfangreiche Reform-Pläne erarbeitet wurden. Rechtzeitig und nur wenige Stunden vor einer Großdemonstration für Pressefreiheit in Ostberlin, für die die Veranstalter mit mindestens einer Million TeilnehmerInnen rechnen, und kurz nach seiner Rückkehr aus Moskau, kündigte Krenz ein 'Aktionsprogramm‘ zur Verwirklichung der 'Wende‘ in der DDR an.
Außerdem kündigte er den Rücktritt einer Reihe - wie er sagte - verdienstvoller Mitglieder des Politbüros an. Krenz nannte dabei Herrmann Axen, Kurt Hager, Erich Mielke, Erich Mückenberger und Alfred Neumann.
Das Programm soll in der kommenden Woche dem Zentralkomittee der SED vorgelegt werden, das am Mittwoch mit seiner 10. Tagung beginnt. Es sieht unter anderem die Einrichtung eines Verfassungsgerichtshofs vor, Reformierung des politischen Systems, Verwaltungsreformen, die Einführung eines zivilen Ersatzdienstes, Begrenzung von Wahlfunktionen, grundsätzliche Änderung der Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsreformen, Demokratisierung der Kaderpolitik, umfangreiche Änderungen des Bildungswesens. Jedoch, so betonte Krenz mehrfach, ließen sich die notwendigen Veränderungen nicht von heute auf morgen durchführen und er appellierte an die Geduld der BürgerInnen.
Krenz appellierte an die Ausreiesewilligen, in die Politik der Erneuerung zu vertrauen und sich mit all ihren Problemen vertrauensvoll an die zuständigen Behörden zu wenden. Krenz beschrieb das neue Programm mit dem Motto: 'Den Sozialismus lebenswerter gestalten‘. Der Dialog mit dem mündigen Bürger, so Krenz, ist unerläßlich. Er werde geführt unter der Überschrift 'Mehr Demokratie für mehr und besseren Sozialismus‘.
Damit stimmte der Staatsratsvorsitzende seine ZuschauerInnen auf die bevorstehende Demonstration für Pressefreiheit ein, die am heute in Ostberlin stattfindet. Die Initiatoren, Vertrauensleute der Berliner Kunst- und Kulturschaffenden rechneten bereits am Freitag mit mindestens einer Million TeilnehmerInnen. Für die Schlußkundgebung am Alexanderplatz wollen folgende RednerInnen sprechen: SED-Lokalchef und designierter Medienverantwortlicher des Politbüros Schabowski, Ex -Spionagechef Markus Wolf, Proffessor Jens Reich vom Neuen Forum, Pfarrer Friedrich Schorlemmer vom „Demokratischen Aufbruch“ LDPD-Vorsitzender Gerlach.
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