: Die Freiheit - und das alltägliche Abenteuer
■ Ein subjektiver Bericht eines PS-Zweiradfans über Leben und Überleben mit heißen Öfen auf Großstadtblechpisten
Da wäre zum Beispiel Frank (23), der seit drei Jahren Motorrad fährt. In dieser Zeit wurde er zweimal aus dem Sattel gehoben, das letzte Mal vor erst sechs Wochen unfreiwillig natürlich. Die Situation typisch: Ein Autofahrer wechselt die Spur, hat angeblich nichts gesehen und fährt Frank in die Seite. „Zum Glück“ hat Frank nichts abbekommen, und der Sachschaden blieb gering. Zu gering für die Statistiker, die in ihre Zahlen nur Unfälle ab 3.000 Mark aufnehmen.
Täglich erleben ungefähr vier Motorradfahrer alleine in Berlin einen solchen oder einen noch schlimmeren Unfall. Dies summierte sich im letzten Jahr auf eine „erwähnenswerte“ Zahl von 1.245 in der Statistik und eine nicht bekannte Zahl kleiner Rempeleien.
Klar ist, daß die meisten Zweiradfahrer im Sommer einen Unfall haben, denn im Winter wird das gute Stück abgemeldet. Viele steigen um ins Auto - Rollenwechsel. Nun gehören auch sie, statistisch gesehen, zu den Autofahrern, die gut 70 Prozent aller Unfälle mit Beteiligung eines Motorrads verursachen.
Warum aber rollen überhaupt derzeit knapp 31.000 Krafträder und -roller auf Berlins Straßen - obwohl doch immer wieder klar wird, daß das Risiko eines Unfalls mit körperlichem Schaden (1988: 1.224) oder gar mit dem Tod (1988: neun) bis zu sechsmal höher liegt als bei denen, die sich im Auto sicherer fühlen können. Vor einigen Jahren noch war das Motorradfahren verrufen. Erhalten hat sich seither aber auch die Assoziation mit Freiheit und Abenteuer. Und der Spaß am Basteln, wenn „die Mühle mal kaputt war“. „Man galt früher als Exot auf der Straße“, sagt Jürgen (35) als passionierter Zweiradfan. „Erwischt“ hat es ihn am Anfang seiner „Karriere“ öfter mal, aber mit der Zeit lernte er, die Autofahrer einzuschätzen und ihnen vorauszudenken. Seitdem Jürgen seine Lektion gelernt hat, fährt er unfallfrei und fühlt sich relativ sicher. Gas gibt er auch gerne mal, aber nur, wenn er „keinen anderen dabei gefährdet“.
Heute ist das Motorradfahren für viele ein Hobby, mit dem sie ungebrochene Vitalität demonstrieren wollen sowie ihren Hang zur Individualität. Zum Beispiel Bernd (28), der bei einer Bank arbeitet. „Bei schönem warmem Wetter“ fährt er im grauen Anzug mit seiner BMW K100 zur Bank. Sonst aber nimmt er das Auto. Auch im Urlaub, denn das Motorrad bietet nicht genug Platz. „Reparaturen?“ Dafür kommt das Motorrad in die Werkstatt. Bei der komplizierten Technik kenne sich doch keiner mehr aus, außerdem bekommt man schmutzige Finger. Und das im Umgang mit finanzkräftigen Kunden, die so sehr auf Sauberkeit achten.
So manch heikle Situation hat Bernd schon überstanden, meist mit Autofahrern, die ihn wohl wie auch Frank übersehen haben. Zum Unfall ist es „zum Glück“ noch nicht gekommen. Seitdem Bernd Motorrad fährt, hat er eine gesonderte Unfallversicherung abgeschlossen: „Man kann ja nie wissen.“ Wenn er mit dem Auto fährt, achtet er jetzt auch mehr auf Zweiradfahrer, weil ihm „die Gefahr bewußt ist“. Michael (24) ist Student an der TU Berlin und Pragmatiker. „Als Motorradfahrer“ kennt er so gut wie keine Parkplatzprobleme an der Uni oder in der Innenstadt. Selbstverständlich denkt er beim Fahren an seinen Geldbeutel - und da schneidet Michael im Vergleich zum Autofahrer nicht schlecht ab. Alle Reparaturen führt er selber aus, denn er fährt eine alte Honda mit einfacher Technik; der Spritverbrauch entspricht dem eines modernen Kleinwagens. Autofahrer fühlen sich durch Leute wie Michael genervt und reagieren zuweilen äußerst aggressiv: Er „schlängelt“ sich nämlich am alltäglichen Stau vorbei und nutzt dabei die schmalen blechbegrenzten Gassen.
Viele Autofahrer haben eine Abneigung gegen Motorradfahrer entwickelt und haben sich vorgenommen, ihnen das Leben schwer zu machen. Dabei ziehen die Zweiradfahrer stets den kürzeren, weil sie „keine Knautschzone haben“, sagt Sabine (25). Deswegen legt sie sich erst gar nicht mit Autofahrern an, selbst wenn sie in Eile ist. Früher fuhr sie nur bei anderen mit, doch dann hatte sie genug davon, machte ihren Führerschein und kaufte sich eine gebrauchte Suzuki. Heutzutage nicht mehr ungewöhnlich, denn ein Drittel der Führerscheinerwerber der Klasse eins sind Frauen, Tendenz steigend. Zuerst haben die Eltern Sabine „ganz schön bearbeitet“, um sie davon abzubringen. Ihre Argumente waren die gleichen wie bei allen Eltern, die Angst um ihre zweiradfahrenden Kinder haben. Doch inzwischen haben sie sich „damit abgefunden“ - und ihr Vater fährt zurückhaltender, wenn er einen Zweiradfahrer sieht. „Leider haben nicht alle Autofahrer ein Kind, das Motorrad fährt“, bedauert Sabine. Und so wird der tägliche Kampf auf der Straße um Sekunden und Meter weitergehen. Mitmachen tun alle, die am Verkehr teilnehmen. Ampeln haben nur noch die Funktion eines Lichtspiels. Und bei Nacht besonders eindrucksvolle, tempobegrenzende Schilder sind nur noch eine willkommene Abwechslung zu den ständigen Halteverbotsschildern.
Die Ellebogenmentalität unserer Gesellschaft hat ihren Weg auf die Straße gefunden und bewegt Gashebel und Hupe nicht selten bis zum Anschlag. Schließlich ist rasantes Fahren laut Werbung ein Muß für jeden. Genauso nüchtern sind die Zahlen der Unfallbilanzen, die jedoch einen „richtigen Mann“ unberührter lassen als das Lesen von Testheften über das neueste Modell.
Die Polizei wird jeden Tag mit Anzeigen wegen Nötigung eingedeckt. „Der Erfolg dieser Anzeigen liegt bei ungefähr Null“, so ein Polizeibeamter, der solche Anzeigen oft anzunehmen hat. Dabei versucht er die anzeigende Person von ihrem Vorhaben abzubringen, denn nach der Anhörung beider Seiten steht „Aussage gegen Aussage“, da es in der Regel keine Zeugen gibt. Schließlich wird das Auto meist von nur einer Person genutzt, und andere schauen nur, wenn es gekracht hat. Und weiter geht der Alltag, mit Gründen genug für die Drängler weiterzudrängeln.
Thomas Lang
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen