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Erst einen Schritt vorwärts, dann zwei zurück

■ Die Sozialistische Einheitspartei Westberlin (SEW) hat nach einer Sitzung in der Nacht zum Donnerstag ihre Auflösung beschlossen Das neue reformierte Parteiblatt 'Neue Zeitung‘, Nachfolgerin der 'Wahrheit‘, erschien gestern nach nur fünf Ausgaben zum letzten Mal

Die SED ein auf Grund gelaufenes Schiff, im Schlepptau und ebenfalls unter Wasser sinkend der Kahn SEW, ein angehängtes winziges Papierschiffchen 'Neue Zeitung‘ kurz unter der Wasseroberfläche. Ein paar Luftblasen steigen noch auf, ein Rettungsboot ist nicht in Sicht. Mit dieser Karikatur auf der Titelseite verabschiedete sich gestern, gerade nach fünf Nummern, die 'NZ‘ von ihren Lesern. Als Nachfolgerin der 35 Jahre existierenden Parteizeitung 'Die Wahrheit‘ war sie am 1. Dezember angetreten, um „neues Denken“ in die Stadt zu bringen. „Zeitung des Dialogs“ sollte sie nach Auffassung des Chefredakteurs Günther Bahrs werden, ein Organ der Perestroika und offen für alle linken Gruppierungen der Stadt. Jetzt hat sich gerächt, daß die Eigentumsverhältnisse mit der Zeitungsneugründung nicht geändert worden waren, daß sie nach wie vor über den Verlag finanziell abhängig von der SEW blieb und diese wiederum von der Schwesterpartei SED. Die Zeitung konnte ein von der Partei emanzipiertes Profil nicht mehr gewinnen. Sie ist in den Sog der Ereignisse geraten. Jetzt geht sie mit der SEW unter. Die Dezembergehälter werden noch ausbezahlt, aber dann liegt die Zukunft in den Sternen. Sollte der Verlag, wie Chefredakteur Bahr befürchtet, Konkurs anmelden, können die arbeitsrechtlichen Interessen der 40 Redakteure nur noch von der Gewerkschaft IG Medien vertreten werden. Ganz und gar aufgeben wollen die Redakteure ihr „Glasnost„-Projekt nicht, ab heute überlegen sie die Perspektiven für eine unabhängige Wochen- oder Monatszeitung. Aus ist es aber nicht nur für die 'NZ‘, sondern auch bald für die SEW. Gekriselt hatte es dort schon lange, erst Ende November waren in einem hilflosen Rettungsprogramm ein komplett neuer GA und ein neuer Parteivorstand gewählt worden. Aber die Flucht nach vorn - die zum Umsturz führende Entwicklung in der DDR wurde noch Anfang Dezember als „stalinistische Deformation“ gegeißelt - nützte nichts mehr. Das Ende der SEW wurde mit dem Beschluß der großen Ziehmutter SED eingeleitet, der Partei ab sofort kein Geld mehr zu geben. In einer turbulenten Nachtsitzung beschloß der Parteivorstand gestern, sich aufzulösen. Einen formellen Auflösungsbeschluß soll der zu diesem Zweck einberufene Parteitag am 16.2. fällen. Die Partei ist, so der Vorsitzende Dietmar Ahrens, finanziell und politisch am Ende. Die 86 Parteiangestellten werden noch bis zum 13.12. bezahlt, für die SEW-Räume müssen Nachmieter gesucht werden. Die Partei hinterläßt ein Defizit von 150.000 Mark, weitere 100.000 Mark müssen wohl als Beitragsaußenstände abgeschrieben werden. Der schnelle Tod der SEW ist für den Vorsitzenden bitter, aber auch er sieht noch Hoffnungsschimmer am Horizont. „Die Liquidation der SEW macht den Weg frei für einen neuen sozialistischen Anfang.“ Die Perspektiven für einen „breiten organisatorischen Zusammenschluß der Linken“ möchte Ahrens nicht wegdiskutieren. Ab jetzt soll erst mal in den Bezirken „die Geschichte“ aufgearbeitet werden. Das es noch Kommunisten in West-Berlin gibt, auch wenn sie bald nicht mehr organisiert sein sollten, will der Parteitorso am Samstag auf dem Kudamm beweisen. Dort wollen sie gemeinsam mit allen demokratischen Organisationen der Stadt gegen die „Wiedervereinigung“ demonstrieren.

ak

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