piwik no script img

Der Wiedervereinigungskanzler

■ Kohls Traum von Kohl - ein Alp

Wie war Europa doch vordem mit zuer Mauer so bequem - so ungefähr könnte der klammheimliche Stoßseufzer vieler Deutscher und (West-)Europäer zur Zeit lauten. Seit die Mauer fiel, sitzt sie wie ein allzuharter Treffer im weichen Rücken der EG und in anderen höchst empfindlichen Körperteilen von Kohl-Gegnern in den eigenen Reihen bis hin zur politischen Opposition. Die reine Freude scheint dieser ganz und gar unerwartete und ungewohnte Zustand momentan nur einem zu bereiten: Helmut Kohl. Zunächst schien Kohl ganz der alte: Bar jeden politischen Instinkts unterbrach er ausgerechnet! - seinen ohnehin heiklen Polenbesuch, wurde in Berlin für seine deutschlandpolitischen Sprechblasen ausgepfiffen und lehrte anschließend Momper Mores, indem er (bisher jedenfalls) nichts zahlte. Politisch gesehen: in Polen kaum Prestigegewinne, in Berlin peinliche Verluste. Das ließ er so nicht auf sich sitzen.

Was dann kam, hatte Kohl selbst vermutlich nur ersonnen als eine Art Rache des Kleinen Mannes: zehn Punkte, bis in die Begrifflichkeit hinein Resteverwertung aus dem gesamtdeutschen Arsenal und so harmlos verpackt, daß erst am Morgen danach die SPD-Opposition verdattert erkannte, Kohls altdeutschen Fötus noch mitangereichert zu haben. Die FDP spreizte ganz schnell nochmal die schlaffen Glieder und hält nun erschöpft, aber glücklich lächelnd an der Garantie für die polnische Westgrenze fest und setzt ansonsten wohl darauf, daß die deutsch-deutsche Wirtschaft die Fakten schon schaffen wird. Die Grünen greinen und greinen. Man könnte meinen: Mit all dem ist kein Staat zu machen. Das Gegenteil ist der Fall: Mit all denen will Kohl seinen Staat machen - wenn man ihn weiter läßt. Anders gesagt: Nicht die eigene Partei und auch nicht der Koalitionspartner haben Kohl handlungsfähig gemacht, es war die Opposition - das ist sein Triumph, das ist ihre große Schlappe. Kohls Macht beruht also, wie schon so oft, auf dem Zufall der Stunde und auf der phantasielosen und deshalb ungefährlichen Ohnmacht der anderen.

Kaum dessen gewahr geworden, riß sich Kohl, plötzlich und unerwartet, die kurzen Hosen des Musterenkels und den knappen Tanzstundenanzug des EG-Musterknaben vom derart viel unverhoffte Macht abstrahlenden Leib. Seither steht vor uns allen ein neuer Kohl: in des Kaisers neuen Kleidern, ein bißchen wie aus dem Ei gepellt und nach wie vor hartgesotten - gerad‘ so betritt dieser kaum bekannte Kaiser Kohl das vielzitierte, noch in der Planung befindliche europäische Haus und macht daraus mirnichts, dirnichts ein flottes Casino.

Schon die erste Runde in Straßburg hat ihn, so glaubt er, bestätigt. Zum ersten Mal wagte er dort sein brandneues Spiel, inklusive der bisher stets bedeckt gehaltenen Karten. Das Spiel verheißt allerdings politisch-riskante (Alp -)Träume: In der EG oder nicht in der EG - in jedem Fall Wiedervereinigung, und wenn die anderen doch das bessere Blatt haben sollten, dann eben mit Anerkennung der polnischen Westgrenze, notfalls nur Mittelgroßdeutschland. Von dem Spiel hätte nicht nur Mitterrand am liebsten die Finger gelassen! Doch Kohl hatte flugs die neuen Karten gemischt, reizte furchtlos aus zwischen EG-Bedürfnis, Osteuropa-Bedarf und Kohl-Interessen und machte ganz ungerührt die Stiche. Die bisher, genauso wie die Mauer, geschlossene deutsche Frage, verbal stets gern und meist schon im Vorhof der Macht abgelegt, ist ab sofort bei jeder EG-Partie mit dabei: Kohl pokerte sie auf den Tisch! Man kann auch sagen: Kohl hatte ein leichtes und spielt jetzt ein gefährliches Spiel.

Anna Jonas

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen