: Angst vor Wiedervereinigungseuphorie
■ Vor dem Kohl-Besuch in der DDR warnen Politiker vor einem deutschen Alleingang / Besorgnis über nationalistische Provokationen in Dresden / 100-Milliarden-Bürgschaft im Gepäck? / Geteilte Wiedervereinigung: Bundesbürger mehrheitlich dafür - DDR-Bürger dagegen
Berlin (taz/ap/dpa) - Wenige Stunden vor dem deutsch -deutschen Staatsmännertreffen in Dresden haben Meinungsumfragen zum Thema Wiedervereinigung erstaunliche Ergebnisse erbracht. Wichtigstes Resultat: Die Deutschen in Ost und West sind genau entgegengesetzter Meinung, und: Anders als vielleicht erwartet, lehnen DDR-BürgerInnen die Wiedervereinigung mehrheitlich ab. Nach einer Umfrage des Infas-Instituts wünschen etwa drei Viertel der befragten Bundesbürger eine staatliche Einheit mit der DDR. Mehr als die Hälfte hält eine Wiedervereinigung in absehbarer Zeit für möglich. Demgegenüber zeigen Umfragen jenseits der Grenze ein entgegengesetztes Bild. Bei einer im Auftrag des 'Spiegel‘ und des ZDF durchgeführten Befragung sprachen sich nur 27 Prozent der DDR-BürgerInnen für einen gemeinsamen Staat mit der BRD aus.
Die Diskussion um die Wiedervereinigung ist dennoch kurz vor dem Kohl-Besuch in Dresden schärfer geworden. Der sowjetische Botschafter Julij Kwizinskij warnte am Sonntag vor einem deutschen Alleingang, der „die internationale Situation verschärfen würde“. Auch bundesdeutsche Politiker bemühten sich am Wochenende, dem Kanzler Mäßigung ins Reisegepäck zu packen. Auf dem Gründungsparteitag der Oppositionsgruppe „Demokratischer Aufbruch“ trat Bundestagspräsidentin Süssmuth einer Wiedervereinigung ohne die Einheit Europas entgegen. Währenddessen forderte der FDP -Vorsitzende Lambsdorff die Anerkennung der polnischen Westgrenze. Auch die Sozialdemokratische Partei der DDR, die SDP, verlangte deren uneingeschränkte Anerkennung.
Währenddessen gibt es Befürchtungen, daß es bei dem Kohl -Auftritt in Dresden zu Massendemonstrationen für die Wiedervereinigung und zu Provokationen gegen die Volkspolizei kommen könnte. Einem Bericht des 'Spiegel‘ zufolge soll Ministerpräsident Modrow deshalb bei seinem Zusammentreffen mit Lothar Späth eindringlich gebeten haben, Kohl möge in Dresden erklären, daß die Wiedervereinigung derzeit nicht auf der Tagesordnung stünde. In Zusammenarbeit mit dem Westberliner „Büro für ungewöhnliche Maßnahmen“ wollen verschiedene DDR-Gruppen mit Straßenaktionen, Flugblättern und Plakaten dem „Wiedervereinigungsgezeter“ beim Kohl-Besuch begegnen. Dazu werden am Dienstag sowohl in Dresden als auch in Ost-Berlin „besonnene, gewaltfreie Maßnahmen“ stattfinden. Jugendorganisationen in der DDR haben dazu gerufen, am Tag des Kanzlerbesuchs landesweit die Häuser mit den Fahnen der DDR zu beflaggen.
Berichten der 'Bild am Sonntag‘ zufolge soll der Kanzler bei seiner Visite in Dresden Investitionsvorschläge und Kreditangebote in Milliardenhöhe vor allem für Klein- und Mittelbetriebe im Gepäck haben. Die bundesdeutsche Wirtschaft sei bereit, in den nächsten zehn Jahren bis zu zehn Milliarden DM jährlich in der DDR zu investieren. Bonn wolle großzügig Bürgschaften für dieses 100-Milliarden Programm übernehmen. Im Gegenzug wird auf dem Treffen Kohls mit Modrow damit gerechnet, daß die DDR schon vorzeitig am 23.Dezember die Einreise ohne Visum und Zwangsumtausch ermöglicht und der Freilassung von inhaftierten Spionen zustimmt. Gleichzeitig wurde gestern bekannt, daß auf Einladung der Ostberliner Regierung schon im Januar eine deutsch-deutsche Wirtschaftskonferenz stattfinden soll.
Ve.
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