: Metropolenwechsel
Europäische Einheit macht die Rüstungsanstrengungen im Pazifik vergessen ■ K O M M E N T A R
Und wenn Berlin, statt zur Metropole aufzuerstehen, nun erst recht zur Provinz verkäme. Die BRD verliert internationale Ausstrahlung, weil sie mit sich selbst beschäftigt ist. Das Nationale diktiert den Ton. Le Pen gibt das Beispiel. Er läßt Frankreich nun schon seit fast einem Jahrzehnt im dumpfen Nationalismus stagnieren. Europa selbst - der große Gedanke - stößt bald auf neue Grenzen. Je weiter die EG den Kreis ihrer Mitgliedschaft in Zukunft zieht, desto mehr läuft sie Gefahr, gegenüber dem Rest der Welt neue Grenzen zu errichten. In Form von Handels- und Immigrationsbeschränkungen. Dieses Europa, das sich heute noch, in der Revolutionsphase, mit Recht so wichtig nimmt, wird erneut der Versuchung ausgesetzt sein, sich selbst als Zentrum und nicht als Teil des Ganzen zu denken.
„Wir sind geschlagen. Das ist ja nicht ganz unwichtig“, meinte Johan Galtung vor sechs Jahren. Das sollte nüchtern klingen, als Resümee eines objektiven Systemvergleichs zwischen Ost und West, das er erbarmungslos zugunsten von Effektivität und Krisenfestigkeit des Arbeitsstaates Japan und der Großmacht China zog. Viel war in diesem Sinne vom Beginn des pazifischen oder fernöstlichen Zeitalters die Rede, indem der technologische und gesellschaftsorganisatorische Fortschritt Ostasiens den des Westens hinter sich lasse. Bereits in den 80er Jahren bestimmte Japan das Tempo der Weltwirtschaftsentwicklung. Und doch hat man über Nacht die überlegene asiatische Konkurrenz in Europa vergessen. Das nächste Wirtschaftswunder - nach Taiwan und Südkorea - erlebt nun die DDR, so glauben viele Deutsche. Sicherlich wird die Restauration in Osteuropa kurzfristig Wachstumszahlen produzieren, vor allem in der BRD. Der internationale Verdrängungswettbewerb, dem in den USA unter Nippons Druck derzeit die wichtigsten Industriezweige zum Opfer fallen, entscheidet sich damit jedoch nicht. Japan ist dabei, zwei halbe Erdteile, Südostasien und Lateinamerika, unter die eigene finanzielle Kontrolle zu bringen. Gelingt das Unternehmen, könnte Tokio in Zukunft den Nord-Süd-Dialog diktieren - sicher nicht zum Vorteil der Dritten Welt.
Es droht Europa nicht nur die wirtschaftliche, es droht ebenso die politische Kleinkrämerei. Wenn sich die EG zukünftig über die Aufnahme Österreichs oder Ungarn streitet, wenn sich Deutsche und Polen, Serben und Kroaten, Rumänen und Ungarn erst richtig in den Haaren liegen, dann findet Weltpolitik demnächst zunehmend im Pazifik statt. Das Vier-Mächte-Statut für Europa hat nicht nur ausgedient, es ist zerfetzt und hinterläßt die Nationalitätenkonflikte der ersten Jahrhunderthälfte. Noch ist die EG zu schwach, um als Eckpfeiler einer neuen weltpolitischen Machtordnung dienen könnte.
Anders im Pazifik. Denn je schneller die Entwicklung in Europa vorantreibt, desto deutlicher wird, daß die pazifische ihr genau gegenläufig ist. Dort konzentrieren sich unter steigender wirtschaftlicher und militärischer Spannung die Hegemonialansprüche vierer Großmächte, unter denen die Bündnisse noch nicht mal genau abgesteckt sind. China, Japan, die USA und Sowjetunion. Wer in Zukunft gegen wen? Wer mit wem?
Weil im Pazifik auf solch große weltpolitische Fragen noch klare historische Antworten fehlen, geht hier die Aufrüstung, fern von Genf und Malta, bedingungslos voran. Die Sowjetunion vollzog in den vergangenen 15 Jahren einen beispiellosen, trotz wiederholter Abrüstungsangebote bisher keineswegs revidierten geographischen Rüstungsumschwung zum Pazifik. In Tokio brachte die Regierung zum Jahreswechsel den Verteidigungshaushalt erneut um über sechs Prozent auf ein absolutes Rekordvolumen voran. Verbittet sich nicht sogar der Gorbatschow-Verehrer George Bush am Abrüstungstisch jedes Sterbenswörtchen über die Pazifikflotte? Keine Sekunde zögerte George Bush vor wenigen Wochen, seinen Truppen auf den Philippinen den Einsatzbefehl zu erteilen, als er die gehorsame Verbündete Cory Aquino in der Gefahr eines Putsches sah. Und weil sich Europa um gar nichts mehr als um sich selber schert, kam auch der Einmarsch in Panama, auf der Straße in den Pazifik, gerade zur rechten Zeit. Nur die japanische Regierung hielt sich bei der Bewertung der US-Militäraktionen auffallend zurück, war Tokio doch bisher immer unter den ersten, die den USA Beifall klatschten. Japan ist nicht mehr der alte Vasall. Tokio unterbindet bisher alle Wirtschaftsbeziehungen mit der Sowjetunion, baut China - vergessen ist Tiananmen! - zum Schwellenland für die eigene High-Tech-Produktion aus und hat den Konkurrenten USA - trotz aller politischen Gegenmaßnahmen der letzten Jahre - in der Stahl-, Auto-, Elektro- und Computerherstellung, also in den wichtigsten Industriebranchen, nahezu besiegt. Damit untergräbt Japan die strukturelle Macht des US-Kapitalismus. Das wird Washington nicht mehr lange Zeit aus bloßer Freihandelsideologie tolerieren können. Aber wie vorgehen gegen den wichtigsten und mächtigsten Verbündeten, der vor einem Jahrzehnt die besten Kameras, heute aber schon die besten Flugcomputer der Welt baut? Gerade weil niemand weiß, wohin die ungeheuren finanziellen, wirtschaftlichen und potentiell militärischen Mächte Japans in den kommenden Jahren steuern, wird rundherum weiter aufgerüstet, pflegt Peking, nicht zuletzt weil militärische Mittel fehlen, die japanischen Beziehungen. Auch in Zukunft wird von dort aus regiert werden, wo sich Reichtum und Rüstung am stärksten akkumulieren, wo die Großmächte folglich am heftigsten konkurrieren. Dieser Ort war bis heute Europa und könnte schon morgen der Pazifik sein.
Georg Blume
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