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Kohls Schienbein

■ Zum Briefwechsel mit Israels Ministerpräsident Schamir

Anders als im hiesigen Sprachgebrauch des politischen Alltags steht der 9. November in Israel nach wie vor für den Jahrestag der Reichspogromnacht gegen Juden im nationalsozialistischen Deutschland. Die Welten, die zwischen beiden Wahrnehmungen liegen, finden in dem Briefwechsel zwischen Kohl und Schamir einen bezeichnenden Niederschlag. Bezeichnend auch deshalb, weil es auch um das Weltbild zweier unverbesserlicher Politker geht.

Kohls Reaktion auf Schamirs Befürchtungen vor einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten („Israel steht dauernd bei uns vor der Tür...“) ähnelt der eines beleidigten Gönners: Der Bittsteller, in diesem Falle der jüdische Staat, soll sich gefälligst der Kritik enthalten, wenn er schon in den Genuß bundesdeutscher Gelder kommt. Kohls Schienbein ist sakrosankt, seine alte Selbstgefälligkeit feiert neue Urstände. „Wir“ (West) sind endgültig wieder wer, weil die Bürger im Osten auf die Straße gingen. Dieses neudeutsche Selbstwertgefühl geht fatal mit einer Entlastung aus der deutschen Geschichte einher, wenn es an einen derart gönnerhaften Gestus gegenüber Israel gekoppelt ist.

Angesichts der Ermordung von sechs Millionen Juden ist es zunächst einmal nicht verwunderlich, wenn in Israel Besorgnis über ein neues Großdeutschland laut werden. Mit seinem Wort von der „tödlichen Gefahr für die Juden“ hat Schamir zur gröbsten Keule gegriffen, die ihm für die Artikulierung israelischer Ängste zur Verfügung steht. Schamir, wie vor ihm Begin, ist bekannt dafür, daß er kein Blatt vor den Mund nimmt. Das gilt gerade auch für die deutsch-israelischen Beziehungen. Es ist Schamirs gutes Recht, Zweifel und Besorgnis zu äußern. Über die Art, wie er es tut, kann man allerdings streiten. In Bonn werden seine Äußerungen eher zum Schulterschluß mit dem Kanzler führen.

Jenseits des Schlagabtausches zwischen Kohl und Schamir und der harten Worte geht es jedoch um eine unterschiedliche Interessenlage. Wo die Bundesregierung sich im Slogan „Deutschland-einig-Vaterland“ sonnt, werden in Israel Erinnerungen an die Zeit wach, in der es schon einmal ein Großdeutschland gab, mobilisieren nationalistische, antiintellektuelle und antisemitische Haltungen in der DDR latente Ängste. Dazu kommt, daß der bislang so verläßliche Partner Bonn nun in der Vereinigungsfrage auf Durchmarsch setzt. Daß es auf Widerspruch Schamirs stößt, wenn Kohl ihn in die Rolle eines Köters drängt, der sein Bein anpinkelt, ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich.

Beate Seel

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