: Eigene Wege russischer Kommunisten
Als Antwort auf die Autonomiebestrebungen der baltischen Kommunisten: Identitätssuche und Gründung einer russischen KP in der russischen Föderation (RSFSR) / „Die Republik auf die Beine bringen“ ■ Aus Moskau Barbara Kerneck
Wem rührten sie nicht das Herz, die windgebeugten Holzkaten unter Birken, die buntgeblümten Kopftücher, Zwiebeltürmchen und Balalaikas. Das alte Rußland, das uns allen diese Bilder schenkte, existiert noch immer. Und gerade jetzt macht die Russische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR) wieder von sich reden. Vor den Wahlen zu einem eigenen Parlament am 4.März verstärkt sich in diesem Unionsstaat fieberhaft die Suche nach der eigenen Identität, die schon seit zwei Jahren die russische Presse beschäftigt. Die Aufgabe ist nicht leicht für ein Territorium - so groß wie die USA -, in dem über 100 Völker beheimatet sind und das einerseits an die Ostsee grenzt, andererseits an Alaska und Japan. Nicht nur die grauenhafte ökologische Verseuchung der großen russischen Flüsse und alten Kerngebiete, auch die jahrzehntelange Identifizierung Rußlands mit der Sowjetunion und ihrem gesellschaftlichen System hat hier Wunden hinterlassen. Die Russen selbst plagen sich nun deshalb mit Minderwertigkeitskomplexen, und zu allem Überfluß fehlt es ihnen auch an einer ganzen Reihe von Institutionen, die sonst in jeder anderen Sowjetrepublik zu den Selbstverständlichkeiten gehören. Eine „Russische Akademie der Wissenschaften“ etwa entsteht erst jetzt.
Bis Ende 1989 gab es keine „Kommunistische Partei Rußlands“. Zumindest ein Russisches Büro des ZK der KPdSU wurde nun aus der Taufe gehoben - als Pendant für die nationalen KPs der baltischen Staaten. Das Büro soll die Tätigkeit der verschiedenen Gebietskomitees der Partei in der RSFSR koordinieren und sich hier im besonderen den Fragen der nationalen Minderheiten annehmen. Die konservative „Front der Werktätigen“ forderte zudem den Ausbau eines Parteiapparats, um die einzelnen Untergliederungen an die Zentrale anzubinden. Das vorwiegend mit Konservativen besetzte Büro stellte sich kürzlich in 'Pravda‘ und 'Sovjetskaja Rossija‘ mit einem Wahlaufruf an die Völker der RSFSR vor. Von sozialer Gerechtigkeit, klarer Luft und sauberem Wasser ist darin die Rede. Speziell an die Jugend richtet sich die Feststellung: „Die Republik auf die Beine zu bringen und die väterlichen Gefilde wiederzubeleben - eine höhere patriotische Aufgabe kann es heute nicht geben.“ Für die Einwohner Rußlands aller Nationalitäten wird in diesem Dokument ein neues Wort geprägt, im Unterschied zu den Russen (Russkije) heißen sie hier „Rossijanje“. Die Rossijanje, meinen die Autoren, könnten sich allerdings selbst nur „im einigen Familienverband der sowjetischen Völker vorstellen“.
Anders sieht diese Frage der „Bund demokratischer Kandidaten“ Rußlands, in dem sich eine Reihe der „Überregionalen Deputiertengruppe“ nahestehenden Kandidaten und Vertreter der verschiedensten informellen Gruppen zusammenschlossen. Auch sie fordern eine eigene russische Partei mit einem eigenen ZK, allerdings mit entgegengesetztem Ziel: die Gleichberechtigung der Sowjetvölker, aber in einem neuen Unionsvertrag auf rein freiwilliger Basis. Als Voraussetzung nennen sie eine recht querdenkerisch wirkende Konstruktion: ein gegenüber der Sowjetunion souveränes Rußland. Vom Bärenfell befreit, käme ein „modernes Rußland für Individualisten“ hervor.
Frischer Wind weht auch aus dem Norden und aus dem Dorf. Die sibirischen Nomadenvölker haben bei sich daheim in Anadyra neue Marschruten für ihre kleinen Rentiere ausgearbeitet und wollen diese künftig gegen die große Industrie verteidigen. Ihren Interessen soll ein Kongreß im März dienen. Gleich zwei Kongresse hielten die Bauern ab. Der „Russische Bauernverband“ entstand als Vorstufe zu einer Partei Anfang Januar. Viele Teilnehmer blieben gleich in Moskau zur Gründung der Assoziation bäuerlicher Haushalte und landwirtschaftlicher Genossenschaften Rußlands (AKKOR). Wenn auch das souveräne Rußland noch fern sein mag, konkret ist die Aussicht auf - wie es ein Teilnehmer nannte: „Inseln der Freiheit in den russischen Sümpfen“.
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