: Eine Amerikanerin in Berlin
■ Die New Yorkerin Marcia Pally betrachtet die Berlinale
Mehrere Ostberliner haben mir versichert, daß der Mangel an Gabeln auf dem russischen Filmball „selbst hier“ keineswegs ungewöhnlich sei. Ich drängelte mich zu der Alu-Schüssel mit einem sich schnell verringernden Vorrat an Löffeln durch und war mir sicher, daß sie völlig recht hatten: Eine Behörde, die als Hauptattraktion des Foyers eine zwei Meter hohe Eisskulptur mit Hammer und Sichel aufstellt, während das sowjetische Machtmonopol überall dahinschmilzt, würde sich freiwillig keinem so banalen Klischee aussetzen. Abgesehen davon gab es durchaus genügend Butter für alle, wenn auch kein Brot, und diejenigen Gäste, die als erste den Weg durch ein wahres Labyrinth von Räumen zum Buffet gefunden hatten (sieht so ein russischer Intelligenztest aus?), hatten offenbar sowohl Messer als auch Gabeln für ihre eisgekühlten Scampi bekommen, wie man an den vielen abgeschnittenen Köpfen sah, die überall auf den Tischen herumlagen. Ich war eine von denen, die naiv genug waren, anzunehmen, daß bei einem 180 DM pro Kopf Empfang beim sowjetischen Kulturattache in Ostberlin, der mit einer Zigeunerkapelle aus einem Bar Mitzwah von Philip Roth eröffnet wurde, auch für entsprechende Speisen und Getränke gesorgt sein würde, darum konzentrierte ich mich erst einmal auf das Unterhaltungsprogramm und kam so zu spät zur Fütterung. Aber was soll's, mein Käsebrot war ausgezeichnet, und ich habe keinen Moment bedauert, mir die Show angesehen zu haben.
Es begann mit einer Doppelgängerin von Marilyn, die im Playbackverfahren Klassiker wie „My Heart belongs to Daddy“ sang und Lamekleider trug, die jedem Transvestiten den Mund wässrig gemacht hätten. Der Auftritt war gar nicht mal schlecht, nur hatte ich schon lange keine weibliche Imitation von Marilyn gesehen. Die folgende Jazztanz-Nummer hatte zwar überzeugende Lederkostüme zu bieten, aber die Choreographie überzeugte mich weit weniger (ich habe schon Bürokratien gesehen, die sich schneller bewegt haben) zumindest bis ich merkte, daß das Ganze eine Persiflage auf die bei Oscar-Verleihungen üblichen Shows sein sollte.
Im Anschluß daran zeigte die Modenschau aus Moskau Kleider, die selbst Audrey Hepburn in ihren besten Tagen als zu brav abgelehnt hätte, und so hoffte ich auf bessere Unterhaltung bei der Bigband der Roten Armee. Glenn Miller hatte es noch nie so gut. Dies ist, so dachte ich unwillkürlich, eine der sowjetischen Abteilungen, die bestimmt nichts zu befürchten hat, wenn Gorbi die russische Armee demobilisiert. So lange es Arbeit für James Last gibt, so lange haben auch diese Jungs ausgesorgt.
Gorbi selbst war übrigens auch da, und ich reihte mich bereitwillig in die Schar der weiblichen Fans ein, die alle ein Küßchen von ihm wollten. Später erfuhr ich, es war gar nicht Gorbi, sondern nur ein Doppelgänger (irgendwie kleiner und grauer als der von Marilyn, wenn man genau hinsah) - ein Ostberliner, der momentan ziemlich begehrt ist. Er steht auf Parties herum und trinkt Wein, den man ebenso gut für Kölnisch Wasser halten könnte, aber das ist immer noch besser, als auszusehen wie Marilyn... Quayle.
Meine eigentliche Aufgabe an diesem Abend bestand darin, herauszufinden, wer noch gekommen war. Wer hatte sich bereit gefunden, zusätzlich zum Eintrittsgeld nicht nur seine eigene Gabel mitzubringen, sondern bis zu 15 DM pro Drink zu berappen und für den Fall, daß er oder sie in dem Gedränge seine Einlaßkarte verlieren sollte, sage und schreibe 850 DM zu entrichten? Jeder Gast mußte während der gesamten Party seinen Ausweis bei sich tragen, der von den Kellnern bei jedem Drink abgestempelt wurde. (Man brauchte nur ein Glas Sekt von einem der Tabletts zu nehmen, schon legte sich einem eine Hand auf die Schulter: „Ausweis bitte!“ Ich habe schon Verkehrspolizisten in Mississippi erlebt, die mehr Mitgefühl hatten.) Wer seine Karte verlor und sie beim Verlassen der Party nicht vorzeigen konnte, der mußte sich von seiner Botschaft oder seiner Mutter mit 850 DM auslösen lassen. Im Programmheft war zu lesen, das Geld würde medizinischen Einrichtungen zugute kommen. Sicher doch - und ich bin Anastasia...
Zum Schluß würde ich wirklich gerne wissen, welche Ostberliner Stellen heute noch farbig gedruckte Einladungen verschicken. Oder ist es tatsächlich so, daß Regierungen kommen und gehen, die Sekretärinnen jedoch immer dieselben bleiben? Die Kommunisten mögen glauben, sie hätten einen schlechten Tag erwischt, aber wenn es darum geht, wer die Welt beherrscht, dann hatte Marx völlig recht. Übersetzung: Hans Harbort
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