: Die Geschichte und das Leben
Gorbatschows Lektion in Sachen Deutschlandpolitik ■ K O M M E N T A R E
Die Geschichte und das Leben sind die Lieblingskategorien Gorbatschows. Der Geschichte hat es zuerst gefallen, Deutschland zu spalten, jetzt hat sie sich unerwartet schnell in Bewegung gesetzt, um dieses Ergebis zu korrigieren. Sowenig für Gorbatschow Geschichte ein Prozeß mit sicherem Ausgang ist - sie hat doch Konstanten, die man nicht ungestraft negiert: das globale Gleichgewicht beispielsweise und seine Voraussetzungen. In dem 'Prawda' -Interview Gorbatschows findet sich nicht die Spur einer Verdachtspsychologie, die ein vereintes Deutschland kraft des schieren Gewichts seiner Geschichte als künftige aggressive Großmacht ansähe. Worauf es ankommt, ist, den Prozeß der Vereinigung zu koppeln an eine Transformation der Gleichgewichtsbedingungen. Von den militärischen Blöcken zum kollektiven Sicherheitssystem. Ausschlaggebend für den Erfolg dieser Bemühungen sind die zeitlichen Arrangements. Ideal wäre das Zusammentreffen von Vereinigung, Demilitarisierung und Blockauflösung. Da damit nicht gerechnet werden kann, gilt es, die Übergangsphase stabil zu halten. Der Nachdruck, mit dem Gorbatschow an den genuinen Rechten der Vier Mächte festhält, entspringt keiner Anti -Hitler-Koalitionsnostalgie.
Es geht nicht darum, an den runden Tisch des Potsdamer Cäcilienhofs zurückzukehren. Die 4-plus-2-Konferenz mit ihrem Zwang zur Einstimmigkeit soll vielmehr gewährleisten, daß bei den zwei wichtigsten Problemfeldern, der Sicherung der polnischen Westgrenze und der Beibehaltung des militärischen Gleichgewichts absolut klare Verhältnisse geschaffen werden. Erst nach Einigung auf der 4-plus-2 -Konferenz kann eine KSZE-Folgekonferenz einen Friedensvertrag ratifizieren. Für die Kohl-Regierung enthält Gorbatschows Interview eine heilsame Lektion. Die Sowjetunion kann und wird nicht vor einer Politik der vollendeten Tatsachen kapitulieren. Sie ist auch nicht mit Formelkompromissen zu ködern. Der westdeutsche Maximalismus ist eben weder mit dem Leben noch mit der Geschichte zu vereinbaren.
Christian Semler
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