: SO WOHNT DER OSTEN
■ Logierregeln für Marzahn, Prenzlauer Berg und Schöneiche
Das Thema Wohnen ist schon deshalb äußerst lohnenswert, weil es dem Schreibenden freie Entfaltungsmöglichkeiten im Reiche der Stabreim-Kalauer läßt: Wohngeldwucher wider würdiges Wohnen! Oder historisch: Wilhelm I. wohnte wonniglich im Wohngelaß. Statistisch: Wer wohnt wann warum wo? Und dergleichen Späßchen mehr. Doch darüber hinaus kommt einem entgegen, daß jeder wohnt, also gewisse Eigenerfahrungen miteinbringen kann. wer nicht wohnt, dient immer noch als Aushängeschild für die Unmenschlichkeit des Systems und findet so ebenfalls seinen „Platz“ in der Gesellschaft, wenn auch freilich keinen sehr erstrebenswerten.
Wohnen in der DDR eignet sich nun wiederum außerordentlich gut für ausführliche Darlegungen, weil sich im Laufe der Zeit putzige Eigenheiten herausgebildet haben, etwa vergleichbar der Modifikation der gemeinen Kohlmeise (parus major major) durch Isolation in bestimmte Untergruppen (parus major minor und parus major bocarensis), die ihrerseits nicht mehr untereinander bedingungslos kreuzbar sind... Natürlich gilt auch für das Wohnen (Ost) die Entstehung der Arten durch natürlich Zuchtwahl (siehe Darwin).
Gerade in diesem Jahr weitet sich nun der Blick nicht nur auf 45 Jahre Sozialismus, sondern auch auf die in den vergangenen fünfzehn Jahren gelöste Wohnungsfrage. Laut Beschluß von Politbüro und Honecker höchstpersönlich sollte bis 1990 das Wohnproblem als soziale Frage vom Tisch sein und ein ehernes Standbild unter den Großen der Geschichte für diese einmalige Tat gesichert. Doch es kam, wie so häufig, eben anders. Die kommunikativen Vorteile
von Zehngeschossern in
Großtafelbauweise
Wer gewisse Voraussetzungen mitbringt - verheiratet, ein oder zwei Kinder - darf die im Volksmund liebevoll Arbeiterschließfach genannten Bauten in den Berliner Randgebieten, in Leipzig-Grünau oder beispielsweise Halle -Neustadt (sprich: HaNeu) beziehen. Und in der Tat traf dieses Schicksal in der Regel solche, die keine Beziehungen, dafür aber nicht länger zu erduldende Wohnverhältnisse hatten, jene armen Geschöpfe also, die in mehr als vierzig Jahren Sozialismus entweder immer noch ehrlich an ihn glaubten und im Dienste der Sache sich mit dem „Blockhaus„ -Wohnstil anfreundeten, oder aber jene, die nicht gelernt hatten, am richtigen Fleck einen roten Fuffi (Fünfzigmarkschein) beim Guten-Tag-Sagen in der hohlen Hand zu haben. Wer tragischerweise keinen kannte, der irgendwo Fliesen oder weißen Zement für das Haus vom Wohnungsamtschef beschaffen konnte, wer sich irgendwie komisch vorkam beim Kaffeehinlegen in der Wohnraumlenkung oder eben einfach vor sich hin gelebt hatte, ohne bestimmte wichtige Personen sich warmzuhalten, der mußte halt in den eckigen Apfel beißen und ins genormte Domizil.
Auf diese Weise sonderten sich tatsächlich bestimmte Schichten von anderen ab. Wenn man jedoch von den Schwierigkeiten, eine angegebene Hausnummer in Marzahn, Höhenschönhausen oder Hellersdorf aufzufinden, einmal absieht, bringen die Tgl-gerechten (Tgl Technische Normen, Gütevorschriften und Lieferbedingungen, entspricht etwa DIN im Westen) Massenquartiere auch eine Reihe von Vorteilen mit sich. Neubaubewohner aus der ganzen Republik können ohne Verständigungsschwierigkeiten sich über die Einrichtung von Appartements austauschen. Etwa so: „Habt ihr das große Zimmer als Wohnzimmer oder als Kinderzimmer?“ „Seit die Kinder aus dem Haus sind, wohnen wir darin.“ Und damit ist die Wohnung zur Gänze beschrieben, da durchschnittliche Drei -Raum-Wohnungen sich nur in der Nutzung der Zimmer unterscheiden, denn ansonsten stimmt immer alles überein, und jeder kann sich spielend vorstellen, wo der andere seine Möbel untergebracht hat.
Die Kommunikation wird also erheblich erleichtert im Neubau. Und das nicht bloß durch standardisierte Ausführung, sondern auch vermittels der angenehm hellhörigen Wände, die Absprachen, nach 22 Uhr keinen Zwieback mehr zu essen oder gar Wäsche zu schleudern, zum unbedingten Erfordernis machen. Andererseits ermangelt es nie der Gesprächsthemen im Hause, weil jeder auf dem Marsch durch die Geschosse oder im Aufzug mit der Nase den derzeitigen Stand der Dinge rekonstruieren kann. Wenn ich früher in der Lift unseres Zehngeschossers trat und mich spontan eine dumpfe Übelkeit befiel, die die Hand unwillkürlich am stets zu engen Hemdkragen nesteln ließ, dann war die aus dem Siebten vor mir heruntergefahren. Wenn sie hinauffuhr, beschlugen nur die Brillengläser vom widerlichen Dunst abartiger Parfüms, weil sich im Laufe ihrer Abwesenheit die Düfte doch etwas verflüchtigt haben mußten. Zudem erlaubt das Warten auf den Aufzug (auf diese Bezeichnung legen die Insider wert, da „Fahrstuhl“ etwas für Kranke sei...), Einsicht in den Speisezettel der umliegenden Mietparteien zu nehmen, der unwiderstehliche Kuchenduft von Frau R. oder die Bratenaromen des alleinstehenden, aber stets mit ansehnlichen Stewardessen heimkommenden Piloten aus dem achten Stock...
Natürlich bedingen die, wenn schon nicht einstürzenden, so doch schlampig errichteten Neubauten, in deren Zimmerecken oft genug Risse sich gähnend auftun und Winde durch die Türen und Fenster wehen, mit ihren äußeren Normen auch innere. Schöne, dabei leider etwas großräumige Möbel lassen sich kaum hinauftransportieren und außerdem selten aufstellen, ohne den dürftigen Platz zu vergeuden, den die mit Platten Architektur machen Architekten eingeplant haben. Also bleibt nur die Anbauwand, hochglanzpoliert oder matt, mit Glasteil oder ohne. Ferner die obligatorische Sitzgruppe mit Couch und zwei Sesseln, und das Kinderzimmer richtet man praktischerweise natürlich auch mit den wenigen Möbeln aus Hellerau oder Zeulenroda ein. Das erleichtert den Kindern bei gegenseitigen Besuchen die Orientierung.
Was die ganze Bauerei mit den genormten und standardisierten Platten und Segmenten angeht, so läßt sich die Art der so freizusetzenden Kreativität mit dem klassischen Wortspiel vergleichen: Paprikaschnitzel, Schniprikapatzel, Piprikaschnatzel usw. usf. Es ist entweder alles das gleiche oder kompletter Unsinn, in jedem Fall aber wesentlich weniger komisch für die betroffenen Mieter.
Und bevor wir das unfreundliche Terrain der WHHGT 85 ( Wohnhochhaus in Großtafelbauweise Jahrgang 1985) und zehngeschossigen Langblocks verlassen, sei noch eine andere praktische Eigenschaft vermerkt: die Übersichtlichkeit. Damit ist nicht jene gemeint, die einen angesichts Tausender, im gleichen Geviert hockender, zwar nicht mümmelnder aber irgendwie eben doch an Kaninchen erinnernder Artgenossen in die Depression treibt, nicht jene Überschaubarkeit, von der man sich vorstellt, wie possierlich es anmuten müßte, wenn alle zur gleichen Zeit ins Bad gingen, danach in die Küche und dann ins Wohngelaß welch imposantes Lichtspiel auf den stupiden Fassaden! Es ist von jener Übersichtlichkeit die Rede, die es den in jedem Aufgang tätigen Hgl-Vorsitzenden (Hgl Hausgemeinschaftsleitung, meist „verläßliche“ Kader, die wiederum in den WBAn Wohnbezirksausschüssen zusammengefaßt sind und „Maßnahmen“ absprechen usw.) erleichtert, Auskunft über die Mieter zu geben. Wie wir Jahre später erfuhren, durfte mein Vater früher nie Dienstreisen in den Westen unternehmen, weil im Hause jemand angegeben hatte, uns besuchten häufig große Westwagen, indes wir weder Bekannte mit solchen Mobilen hatten noch uns vorstellen konnten, wie man bei dreißig Mietparteien herausfinden will, wen der unten parkende Gast besucht. Die Koinzidenz von Trabanten
und Parzellenwunscherfüllung
Direkt mit den Wohnsilos korrespondierend können die Kleingartenanlagen betrachtet werden, die dafür sorgen, daß „unsere Werktätigen“ - wessen wir da im einzelnen waren, konnte nie genau geklärt werden - einmal frische Luft atmen, sich frei entfalten können auf der Scholle, die Lunge weiten beim Rasenschneiden und Freude tanken beim behutsamen Hegen der Tülpchen und Krokusse. Doch Gartenland ist knapp, weshalb die Lenkung der Grundstückswünsche in die Hände des VKSK gelegt wurde, (Verband der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter). Schon nach etwa zehn- bis zwölfjähriger Wartezeit, also kurz bevor man bei gleichzeitiger Anmeldung den Trabi zum Hinfahren bekommt, kriegt mit etwas Glück das inzwischen langjährige Verbandsmitglied eine Parzelle zugeteilt, bei der man sich in der Regel fragt, weshalb das Wort „Par“ noch davorgesetzt wurde. Gegenwärtig werden keine Flächen über 200 Quadratmeter vergeben. Der möglicherweise seiner Hausgemeinschaft fürs Wochenende und damit eventuellen Subotniks bzw. VMI-Einsätzen (Volkswirtschaftliche Masseninitiative) entronnene Neubaubewohner reiht sich nun in die VKSK-Sparte ein, daß heißt, er muß sich gewissen Regeln beugen.
Da waren in der Vergangenheit nicht nur bestimmte Abgabe -Mindest-Mengen an Obst und Gemüse, sondern die Hecken durften der Übersichtlichtkeit wegen (schon wieder) nicht höher als 1,20 Meter sein. Die in zwei Ausführungen genehmigten Fertigteilbungalows konnten in zwei verschiedenen Richtungen aufgestellt (Fenster zur Gartenpforte, Fenster zum rechten Nachbarn) werden. Und wer mehrfach nicht zur Spartenversammlung erschien, der erhielt eine Rüge am Spartenbrett. Die winzigen Gehege, die, von höherem Standpunkt aus überschaut, einem Platzangst einflößen, waren nicht vererbbar und konnten bei Unstimmigkeiten mit der Sparte oder irgendwelchen Vergehen jährlich gekündigt werden. Schließlich seien noch die urwüchsigen Namen dieser KGAs (Kleingartenanlagen) erwähnt. „Wilhelmstrand“ - traditionsreiches Gebiet an der Spree mit kaiserlicher Vergangenheit, „1. Mai“ - ohne Kommentar, „Bornholm“ - Pankower Gartenkolonie, nach der sogar Gedichtbände benannt wurden, „Edwin Hoernle“ - 1883 bis 1952, kommunistischer Agrar- und Schulpolitiker, Mitbegründer der kommunistischen Kinderbewegung... Die Riten des Altbaus
Nachdem dieses weite Feld abgearbeitet ist, kommen wir nun zu denjenigen, die in Kleingartenanlage und Mietbox garantiert nicht anzutreffen sind. Diese wohnen zum Beispiel am Prenzlauer Berg im bröckelnden Vorderhaus, wo Ziersimse, Giebelchen und Putten längst abgefallen sind, wo die Balkone gesperrt oder abgetragen wurden und das rohe Gerippe der Klinker unter dem leise rieselnden Putz müde in die feuchten Januar- und Februartage starrt. Sie wohnen auch im ersten, zweiten oder dritten Hinterhaus oder im HHQG Hinterhausquergebäude, wo schon nichts mehr bröckeln kann, wo stinkige Mülltonnen herumstehen und bläßliches Laub an den kahlen Ästen einsamer Baumkümmerlinge im Winde lappt.
Was auf dem ewigfeuchten Hof nicht wächst, das schiebt sich unhörbar durch die Hauswände, infiltriert, zersetzt und muffelt vor sich hin: Schimmelpilz. Wasser rinnt hier und da über Mauern, innen wie außen, Dachrinnen lassen lustige Wasserspiele plätschern und Wände durchnässen. Alles in allem eine Idylle, in der sich bestens die eigene Anspruchslosigkeit demonstrieren läßt, wo man zeigen kann, daß man ausschließlich an den wirklich wichtigen Dingen im Leben interessiert ist... Nicht alle, die hier leben, wollen hier leben, manche haben ausgebaut, was auszubauen war und stoßen irgendwann an die Grenzen der Bewohnbarkeit, die Familie verlangt nach Bequemlichkeit.
Am Prenzlauer Berg wie auch in anderen, langsam verfallenden Bezirken anderer Großstädte der DDR hat sich eine besondere Spezies niedergelassen, die sich nicht nur den äußeren Gegebenheiten der vormals ansehnlichen Mietkasernen hat, sondern auch den inneren Vorschriften. Wer hier lebt, verlangt mehr vom Leben als all die Spießer mit ihren Gartenzwergen und blank geputzten Trabis. Wer hier wohnt, würde nie in eine Neubauwohnung ziehen, da würde er kaputtgehen drin. Statt dessen kommt er lieber den üblichen Riten des Altbaus nach. Zunächst bemalt man seine Fensterscheiben, um alternatives Lebensgefühl weithin sichtbar zu dokumentieren. Und so, wie der „Neubauer“ um die Anbauwand nicht herumkommt, kann es sich kein anständiger Hinterhäusler leisten, nicht Hesse oder Kafka zu lesen, im Schneidersitz versteht sich, bei Rotwein oder Tee, und indische Sitarmusik hörend. Im Gegenteil, das Reglement ist möglicherweise noch viel strenger, denn unten muß ein altes, klappriges Rad an der Hauswand lehnen, die Ledertasche hat überm Parka zu baumeln und die Möbel sind entweder alt oder aus Kisten zusammengestellt. Es ist dies ein Menschenschlag, der meist genau weiß, wo es auf der Welt langgeht und was der Gegenüber an unbewältigten Komplexen mit sich herumschleppt, wo seine Grenzen im Denken sind und welche Neurosen er noch nicht überwunden hat...
Auch Josefine zum Beispiel wohnt am Prenzlauer Berg, in der Oderberger Straße, wo sie jetzt einen Sponsor aus dem Westen suchen, um das alte Bad wieder renovieren zu können. Josefine ist die Tochter des ehemaligen stellvertretenden Gesundheitsministers, der obendrein einer Familie mit kunstsinnigen Vorfahren angehört. In der Schule haben wir sie immer bewundert und beneidet, denn sie kam aus Schöneiche am östlichen Stadtrand von Berlin gelegen, wo sonst noch viele Künstler und begüterte Leute wohnen (die andere Gruppe, die nie in den Neubau zieht). Das Haus in Schöneiche war keine prunkvolle Villa, nur ein normales Haus und der Garten von jener zarten Unordnung, die erkennen läßt, daß man mit den kiesbestreuten Wegen und gehegten Steingärten nichts gemein hat. Da steht der weite Geist drüber. Bei Gesundheitsministers
daheim
Gern war man dort zu Besuch, nicht nur, weil man immer etwas zu essen bekam, sondern vor allem der freien Atmosphäre, der Unkompliziertheit und kultivierten Toleranz wegen, die dort herrschte. Künstler gingen aus und ein, der für damalige Verhältnisse weltreisende Vater brachte die unwahrscheinlichsten Dinge mit, die man nur bestaunen konnte. Zu Hause habe ich weder jemals mit finnischen Frühstücksmessern, noch irgendwann einmal kandierte Heuschrecken aus Japan gegessen. Im Keller stand ein Steinway-Konzertflügel von solch ausladender Größe, daß man ihn wohl beim Hausbau in die Grundmauern eingelassen haben und hernach das Ganze vermauert haben muß, jedenfalls hätten Fred Astaire und Shirley Temple sämtliche Filme auf dem schwarzen Instrument abtanzen können. Dazu stand alles voll mit den seltsamsten Mitbringseln aus aller Welt, mit eigenwilligen Vasen, Skulpturen, Keramiken, Gläsern und Kristall. Und keine Spur von kleinbürgerlicher Enge. Wenn der kleine Bruder von Oliver, genannt Bolle, seinen Handstand vor der Vitrine mit der Mutter gesammeltem Bleikristall machen wollte, dann konnte er natürlich. Die Küche, ein Labyrinth aus wundervoll altertümlichen Gerät und phantasievoller Unordnung. Einfach herrlich, wenn man aus dem Neubau kam!
Unbegreiflich, ein solches Paradies aufzugeben, und dennoch wohnt Josefine jetzt in der Oderberger, die eine kleine Legende für sich ist und in diversen Fotoserien einschlägiger Schwarzweißlichtbildner festgehalten wurde. Die kleine Ein-Zimmer-Wohnung im dritten Stock mißt schätzungsweise 30 Quadratmeter, wobei eine kleine Küche bereits mit inbegriffen ist. Klo eine halbe Treppe. Nein, das kann ein Kleinbürger nicht verstehen, daß hier das wahre Leben stattfindet, daß hier Szene ist, die Bierkneipe um die Ecke und die Keramik-Werkstatt, in der Josefine arbeitet, ebenfalls nicht weit. Draußen, in Schöneiche singen die Vögel, spielen die Lichtreflexe durch das Blattwerk der Bäume, ist Ruhe, fernab vom Großstadtgetriebe und doch nicht außer Reichweite, und da setzt sie sich mitten hinein in den rußbedeckten Tumult des zerfallenden Altbaus?!
Doch die Familie hat auch ein Haus an der See, in Ahrenshoop, wo sonst nur die finanzstarke Creme sich angesiedelt hat, ein Erbstück von einer Tante, sagt Josefine. Das Fischerhaus mit Schilfdach ist gleichfalls gediegen eingerichtet, gemütlich, warm, anheimelnd. Viel Holz und Fundsachen, die das baltische Meer irgendwann mal angeschwemmt hat, die man nicht liegenlassen konnte, als „Sachensucher“ am Strand. Zur Steilküste ist es nicht weit. Es ist steinig dort und deshalb nicht so überlaufen, ewig kann man dort ungestört nackt im Sande liegen oder baden oder in den Herbststürmen dick vermummt im Regenmantel den tobenden Wassern zusehen... Normal- und Uneigenwohner
Ja und dann bleiben nur noch einige, gänzlich irrelavante Leute, die einfach so, normal vor sich hin wohnen, die in einem erträglich erhaltenen, möglicherweise sanierten Altbau logieren, ausreichend Wohnraum haben und täglich zur Arbeit gehen. Das sind jene, die in ihrer Artenbildung beim einfachen Menschen stehengeblieben sind, die sich nicht bekennen wollen und vielleicht gar noch Gasheizung haben, statt der guten alten Kohlefeuerung. Am Ende haben sich diese Individuen gar noch ihre Möbel auf irgendwelchen Haushaltsauflösungen besorgt oder sie geerbt und sind auch noch glücklich dabei. Natürlich muß man da argwöhnisch sein. Aber Gott sei Dank dürften sich solche zweifelhaften Typen in der Minderheit befinden.
Wer nicht im Neubau, nicht in der alternativen Bruchbude oder dem komfortablen Eigenheim wohnt, wer nicht Normalwohner ohne besondere Kennzeichen ist, der hat vermutlich überhaupt keine Wohnung, und derer gibt es ebenfalls noch zur Genüge. Kollegin Claudia zum Beispiel ist jetzt 21 und wohnt noch immer mit dem 19jährigen Bruder im gleichen Zimmer. Die Dame auf dem Amt hat dafür genau Festlegungen: Wenn sie 26 ist, dann wird dieses Verhältnis „moralisch bedenklich“, meint sie. Bis dahin jedoch läßt sich das ertragen, und es gibt keine erhöhte Dringlichkeit für den „Antrag auf eigenen Wohnraum“. Überdies gilt, wer ein eigenes Zimmer bei den Eltern hat und unter 26 ist, als versorgt. Mit einem Geschwister zusammen definiert man behördlicherseits die Situation immerhin bis zum Alter von 23 Jahren als erträglich, erst dann wird man antragsberechtigt, erhält aber noch lange keine Wohnung. Alleinstehende ohne Kinder scheinen ohnehin als Sonderlinge zu gelten. Kind oder Trauschein müssen her.
Und zum guten (?) Schluß sei noch vermerkt, daß es darüber hinaus noch eine weitere Kategorie des Wohnens gibt in der DDR. Die in Waldsiedlungen mit verläßlichem Zaun drumherum nämlich. Eine solche in Wandlitz kam unlängst in die Schlagzeilen. Wer jedoch näher hinsah, mußte staunen, wie wenig die hohen Herren dort aus ihren Privilegien gemacht haben. Offenbar mangelte es den Berufsrevolutionären ein wenig an Geschmack. Wären da nicht noch die zahlreichen Gästehäuser im feineren Stil gewesen und die weitläufigen Jagdgebiete für den saarländischen Schalmeienbläser, man hätte fast Mitleid haben mögen ob der vergleichsweise schlichten Regierungshäuschen. Von westlichen Unternehmern kennt man da ganz andere Formate.
Einige der in letzter Zeit ihrer Bewohner beraubten Häuschen allerdings sind schwer an den Mann/die Frau zu bringen: Indem sich die früheren Bauherren in ewiger Sicherheit wähnten, die Macht noch lange auf ihrer Seite zu haben, errichtete man Bauten, die derart verschwenderisch und von so freigebigem Luxus gestyled waren, daß sie nicht einmal westliche Immobilisten, die ja weiß Gott nicht wählerisch sind, übernehmen wollten. Bei 500.000 D-Mark Unterhaltskosten im Jahr für unrentable Fußbodenheizungen, Saunen und Schwimmbäder, fand sich nach der Enteignung kein neuer Interessent. So steht denn leer, was für die besseren Sozialisten gedacht war.
Das Wohnungsproblem geht indessen in der DDR tatsächlich seiner Lösung entgegen. Je länger man von „drüben“ versucht, billig aufzukaufen, anstatt wirkliche Hilfe zu leisten, nimmt die Wanderbewegung gen Westen kein Ende. Und wenn dann demnächst auch die letzen Idealisten, die heute noch an die Kraft sozialer Umgestaltung glauben, ins Ruhrgebiet oder nach Neuseeland übergesiedelt sind, wird es auch keine Hausmeister mehr geben, die mich daran hindern können, abends über die Dächer zu spazieren und dem lächerlichen Rest nachzublicken, der einmal ein besseres Deutschland werden sollte...
Ralf Schuler
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